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biblio : aktuelle buchtipps

Buchtipps / 2022 / Dezember

erstellt von der STUBE und dem Österreichischen Bibliothekswerk

Die Fan-Brüder: Lilli und die Wolke

/ Die Fan-Brüder. - Berlin : Jacoby & Stuart, 2022. - 56 Seiten : Illustrationen
ISBN 978-3-96428-147-0      Festeinband : EUR 18,50 (AT)

Einen Hund oder eine Katze als Haustier haben kann jede*r. Mit diesem spielen, spazieren zu gehen und es zu füttern, ist eigentlich auch noch ganz leicht. Anders ist das jedoch, wenn das Haustier eine Wolke ist und es strikte Regeln einzuhalten gilt: Gieße deine Wolke regelmäßig, aber nur (!) mit sauberem, frischen Wasser. Vermeide jedoch Überwässerung, da dies zu Regengüssen führen kann. Das sind nur zwei von sechs Regeln, die die kleine Lilli im neuen Bilderbuch der Fan-Brüder unbedingt befolgen muss, als sie sich eine Regenwolke als neue Mitbewohnerin mit nach Hause nimmt. In feinem, detailverliebten Bleistiftstrich mit den Signalfarben Gummistiefelgelb und Topfpflanzengrün lernen die Leser*innen Lilli kennen, die ihre Wolke – die sie Regel 1 befolgend (»Gib deiner Wolke einen Namen«) Mikko tauft – hegt und pflegt. Und Mikko wächst und gedeiht, gießt artig die Zimmerpflanzen und fühlt sich zuckerwattenwolkenwohl. Bis ein Wutanfall unausweichlich ist, denn Lilli hat Regel 6 vergessen: »Halte eine Wolke nie in einem zu kleinen Zimmer«. Und wie könnte eine Wolke ihren Grant besser loswerden, als wenn sie sich als Gewitterwolke – unpraktischerweise in Lillis Zimmer – entlädt? Die einzige Lösung ist unausweichlich: Lilli muss ihre Hauswolke in die Freiheit entlassen.
In wenigen Worten und umso ausdrucksstärkeren Illustrationen erzählt das Brüderduo von einer besonderen Freundschaft, in der die Message eingeschrieben wird, dass manchmal das Loslassen zum Glück führt.

Alexandra Hofer | STUBE

Tanja Esch: Boris, Babette und lauter Skelette

/ Tanja Esch. - Hamburg : Kibitz, 2022. - 160 Seiten : Illustrationen
ISBN 978-3-948690-17-5      Festeinband : EUR 20,60 (AT)

Kein Wiesel, kein Waschbär und definitiv kein Hamster – Boris’ Nachbarin Lynette weiß selber nicht, was sie sich da vor Jahren für ein Haustier gekauft hat. Das immer ein wenig verdutzt dreinschauende Wesen hat in etwa die Größe eines Kleinkinds, dichtes sonnengelbes Fell, und es kommt noch ungewöhnlicher: Babette spricht. Mit einem bezaubernden kleinen Sprachfehler, der jedes »S« in ein klingendes »Sch« verwandelt, aber ansonsten laut und deutlich. Und Boris soll nun, während Lynette ein Jahr in London verbringt, auf Babette aufpassen, denn ein so ungewöhnliches Tier kann weder in eine übliche Tierunterkunft noch in die Obhut jeder beliebigen Person übergeben werden. Obwohl er die neue Untermieterin vor seinen Eltern geheim halten muss, stimmt Boris schließlich doch noch zu, ohne überhaupt das Ausmaß der Aufgabe zu erahnen, derer er sich hier annimmt. Denn Lynette (so verrät es die totenkopf-, schwarz-, und violettlastige Einrichtung), hat eine Vorliebe für alles Gruselige, die auch Babette teilt – wie soll sich diese in Boris’ so gar nicht gruseligem Kinderzimmer überhaupt einleben können? Und dann wäre da ja auch noch ihre Suche nach Zugehörigkeit irgendwo zwischen Mardertieren und Menschen…
Tanja Eschs neuester Kindercomic »Boris, Babette und lauter Skelette« besticht durch den reduzierten aber präzisen Stil seiner Zeichnerin, der mit der knalligen, flächigen Farbgebung eine klar und verständlich, aber mit viel Humor und Tempo unterfütterte Geschichte erzählt. Von Boris und Babette bis hin zu den Eltern des Protagonisten haben die Charaktere außerdem nicht nur optischen Wiedererkennungswert, sondern sind auch sprachlich markiert – neben Babettes »Sch«-Vorliebe und ihrer konsequenten Selbstreferenz in der dritten Person ist hier zum Beispiel Boris’ Mutter zu erwähnen, die als Programmiererin in einem schlussendlich unverständlichen (aber wirklich sehr amüsanten) deutsch-englischen IT-Kauderwelsch daherredet. Die Künstlerin schafft es mit ihrer übersichtlichen Panelgestaltung und charmant-kauzigen Figurenzeichnung, die Geschichte einer eigenwilligen Selbstfindung zu erzählen, die vor allem unglaublich großen Spaß macht und dabei trotzdem berührt. Und: Wer sich nachts traut, nach dem Lesen das Licht auszuschalten, wird mit leuchtenden Knochen und Skeletten auf dem Cover belohnt. Ein Comic-Fest für junge Leser*innen – in dem zum Glück mehr gelacht als gegruschelt wird!

Alexandra Hofer | STUBE

Missy Marston: Fliegen oder fallen

: Roman / Missy Marston ; aus dem Englischen von Alexandra Rak.
- Hamburg : Goya, 2022. - 283 Seiten
ISBN 978-3-8337-4427-3       Festeinband : EUR 22,60 (AT)

Eine Zeitreise ins Kanada der 1970er-Jahre. (DR)

Trudy ist Tochter von Claire, Schwester von Tammy und Tante von Mercy. Die Frauen der Familie verbindet, dass sie durchwegs mit 17 Jahren schwanger werden. Tammy verschwindet ein paar Jahre nach Mercys Geburt aus dem Leben ihrer Tochter, die bei der Tante und Großmutter bleibt. Claire trauert ihrer großen Liebe nach, einem verheirateten Mann. Trudy versucht die Familie am Laufen zu halten. Doch auch sie hat ein Geheimnis: Nur ein einziges Mal hat sie ihre sexuelle Abstinenz gebrochen, was prompt zu einer Schwangerschaft führte. Sie entschied sich damals dafür, das Kind nicht zu bekommen, um das fragile Gefüge ihrer Familie nicht zu gefährden.
Aus verschiedenen Perspektiven bekommen wir Einblicke in das Familienleben. Trudy arbeitet in einer Fabriksschneiderei, erzieht Mercy, liebt sie abgöttisch und tröstet Claire, die seit ihrer Trennung vom Kindsvater depressiv ist.
Der Autorin gelingt es, die traurigen Themen in einem leichten Stil zu verpacken, getragen von den liebevoll gezeichneten Charakteren. Humor und Ironie sind wie Goldfäden eingewirkt, sodass die Glückssuche dieser liebenswerten Menschen im Vordergrund heiter wirkt, obwohl auch Sucht, schnelle Autos und gebrochene Menschen einen Platz im Roman haben.
Ein Buchschatz, der vor allem junge Erwachsene ansprechen wird. Wunderbar feine und gute Unterhaltung!

Angela Zemanek-Hackl | biblio

Natasha Pulley: Der Leuchtturm an der Schwelle der Zeit

: Roman / Natasha Pulley ; aus dem Englischen von Jochen Schwarzer.
- Stuttgart : Klett-Cotta, 2022. - 536 Seiten
ISBN 978-3-608-98636-5      Festeinband : EUR 25,70 (AT)

Beide Seiten können die Schwelle übertreten, aber nur eine weiß darüber Bescheid. (DR)

Im London Ende des 19. Jahrhunderts leiden immer mehr Menschen an Gedächtnisverlust. Bei den meisten dauert dieser Zustand wenige Stunden oder Tage an. Joe Tournier ist laut Ärzten ein besonderer Fall, da sich seine Amnesie auch nach Jahren nicht mehr zu legen scheint. Als Joe eine Postkarte aus dem Jahr 1805 erhält, kommen ihm seine losen Erinnerungen weniger wie eine Krankheit, sondern immer mehr wie Andenken aus einem anderen Leben vor. Er macht sich auf die Suche nach dem auf der Postkarte abgebildeten Leuchtturm und wird schließlich als Techniker dort hingeschickt. Kurz darauf rettet er einen gestrandeten Matrosen namens Kite aus dem halb zugefrorenen Meer. Im Leuchtturm spukt es, doch der Matrose und er überstehen die unheimliche Nacht im Turm. Warum nur kommt ihm dieser Fremde so vertraut vor?
Hundert Jahre liegen zwischen den Kapiteln, in denen das Leben der beiden Protagonisten erzählt wird. Kann eine unabsichtliche Überschreitung einer Zeitschwelle zu drastischen Veränderungen der Zukunft führen? Den Leser*innen zeigt sich bald das ganze Bild der meisterhaft erzählten Geschichte. Ein Fantasy-Roman, der ohne Monster und Brutalitäten auskommt, dennoch unvergleichlich spannend und mit der anhaltenden Hoffnung auf ein Happy End der zarten Liebesbeziehung.

Hannah Stolze | biblio

Kawai Strong Washburn: Haie in Zeiten von Erlösern

: Roman / Kawai Strong Washburn
; aus dem Amerikanischen von Cornelia Holfelder-von der Tann.
- München : Luchterhand-Literaturverlag, 2022. - 442 Seiten
ISBN 978-3-630-87705-1      Festeinband : EUR 22,70 (AT)

Grandioser Roman über das Weiterwirken traumatischer Erfahrungen in der deutschen Nachkriegszeit. (DR)

Dieser Roman ist der letzte Teil von Ralf Rothmanns Trilogie über die deutsche Nachkriegszeit. Wir begegnen hier noch einmal Elisabeth und ihrem Mann Walter, die den Eltern des Autors nachempfunden sind. Die siebzehnjährige Elisabeth flüchtet im Winter vor Kriegsende mit ihrer Familie aus der Umgebung von Danzig vor der Roten Armee nach Westen. Sie geraten in einen Hinterhalt der feindlichen Truppen, bei dem alle außer Elisabeth ums Leben kommen. Elisabeth fällt in die Hände der sowjetischen Soldaten, die sie mehrfach auf brutale Weise vergewaltigen. Sie überlebt aber durch die Hilfe eines Sanitäters der Roten Armee und gelangt dann nach Norddeutschland. Der Roman schildert das weitere Leben von Elisabeth und ihrer Familie.
Zwei Themen bestimmen das Buch. Das eine ist die scheiternde Suche nach Liebe und Glück. Um mit ihren schrecklichen Erlebnissen fertig zu werden, stürzt sich Elisabeth immer wieder in Unterhaltung, Tanz und oberflächliche Männerbeziehungen. Ihr Mann Walter, der zuerst als Melker auf einem Gut in Schleswig und dann als Bergmann im Ruhrgebiet arbeitet, vergräbt seine schlimmen Kriegserfahrungen in Schweigen. Das andere Thema ist die Leidensweitergabe von einer Generation an die nächste. Das Leid wird weitergereicht, weil die Betroffenen unfähig sind aus ihren eigenen Gewalterfahrungen zu lernen. Weil sie mit dem Partner nicht über ihre Erfahrungen sprechen können, bleiben sie allein mit ihren Traumata.
Rothmann vermeidet beim Erzählen Psychologisierung und Deutung, sondern konzentriert sich auf präzise Darstellung. Er beschreibt detailliert und minutiös. Seine Sprache ist dicht und atmosphärisch. So schildert er etwa auf großartige Weise das allmähliche Verlöschen der Lebendigkeit Walters unter Tag in der Kohlengrube und er zeichnet hervorragend die Lebensrealität des Ruhrgebiets in der Zeit des deutschen Wirtschaftswunders. Ein wunderbares Buch, das man unbedingt lesen sollte.

Josef Mitschan | biblio

Serhij Zhadan: Himmel über Charkiw

: Nachrichten vom Ãœberleben im Krieg
/ Serhij Zhadan ; aus dem Ukrainischen von Juri Durkot, Sabine Stöhr
und Claudia Dathe. - Frankfurt am Main : Suhrkamp, 2022. - 239 Seiten
ISBN 978-3-518-43125-2      Festeinband : EUR 20,60 (AT)

Die ersten vier Kriegsmonate in der ukrainischen Stadt Charkiw. (BB)

Unmittelbare Wahrnehmungen werden in diesem Buch geteilt, die Serhij Zhadans Freiwilligen-Tätigkeit entstammen. Seit Kriegsbeginn arbeitet er bei der Verteilung von Medikamenten und Lebensmitteln mit und hilft, alte Menschen und Kranke in Sicherheit zu bringen. In seinen Notizen hält er fest, was er dabei sieht und erlebt.
Es sind einerseits traurige Geschichten, wie der Tod eines Freundes, der von einer russischen Rakete getötet wurde, während er bei einer Evakuierung half. Andererseits teilt der Autor auch ermutigende Erfahrungen, etwa vom Widerstandswillen der Ukrainer*innen, von Hilfsbereitschaft und menschlichem Einfallsreichtum. Als sich im März russische Sabotageeinheiten dem Krankenhaus der Stadt näherten, verließen die Ärzte ihre Arbeit und griffen nach ihren Maschinenpistolen, um die Klinik zu verteidigen. Nach erfolgreicher Abwehr des Angriffs kehrten sie in den Operationssaal zurück.
Zhadans kurzen Tagesberichte, sparsam ergänzt durch Handyfotos, bringen uns die Kriegsrealität besser näher als die immer gleichen Fernsehbilder. Sie vermitteln den Schrecken beim Beschuss, das Gefühl der Zufälligkeit und der Unfähigkeit etwas zu beeinflussen. Der Autor führt uns auch vor Augen, wie der Krieg mit der Zeit die Wahrnehmung der Menschen verändert. Sie achtet man beispielsweise bei der Fahrt durch die Stadt genau darauf, ob eine Straße oder ein Viertel bereits einmal beschossen worden ist.
Diese Geschichten führen uns vor Augen, welche gewaltigen Herausforderungen die Menschen in der Ukraine jeden Tag bewältigen müssen. Sie zeigen aber auch ihre Kraft und ihren Willen und sie lassen begreifen, warum dieses Volk vor den Angriffen nicht in die Knie geht. Ein wichtiges Dokument und absolut empfehlenswert!

Karl Vogd | biblio

Teresa Bücker: Alle Zeit

: eine Frage von Macht und Freiheit / Teresa Bücker.
- Berlin : Ullstein, 2022. - 397 Seiten
ISBN 978-3-550-20172-1      Festeinband : EUR 22,70 (AT)

Zeit als zentrale Ressource, die über soziale Gerechtigkeit bestimmt. (GS)

Blicken wir auf den modernen Menschen in den Industrienationen, so eilt dieser durch die Welt, getrieben von einem mächtigen Verfolger – der Zeit, die ihm immer im Nacken sitzt, nie ausreicht, wo doch viel zu tun wäre. Hat uns der technologische Fortschritt nicht Erleichterung und Zeitersparnis versprochen? Irgendwie scheint dieses Versprechen nicht aufzugehen. Warum dies so ist und was Zeit als Ressource mit unserem Lebensstil und gesellschaftlichem Handlungsvermögen macht, analysiert Teresa Bücker. Scharfsinnig und schonungslos setzt sie die Lupe an, wo wir glauben, dass wir Zeit effizient nutzen. Durchgetaktet bis auf die letzte Sekunde ist unser Tag: Erwerbsarbeit, Freizeit und Care-Arbeit, wobei diese Begrifflichkeit leer bleibt, denn Arbeit wird gewöhnlich entlohnt und Sorgetätigkeiten werden politisch und monetär bislang noch nicht als solche gewürdigt. Dieser Missstand bewegt die Autorin offensichtlich besonders, da ihm viel Raum im Buch gegeben wurde. Entstanden ist ein Buch, das auf Fehlentwicklungen hinweist, archaische Traditionen anmahnt, um letztlich den zermürbenden Takt unser aller Leben zu hinterfragen und aufzubrechen. Flüssig zu lesen und aufrüttelnd in jedem Kapitel überzeugt das Buch und sollte dementsprechend in alle Bestände aufgenommen werden.

Anna Goiginger | biblio

David Steindl-Rast: Das Vaterunser

: ein Gebet für alle / David Steindl-Rast mit Brigitte Kwizda-Gredler.
- Innsbruck ; Wien : Tyrolia Verlag, 2022. - 125 Seiten
ISBN 978-3-7022-4060-8      Festeinband : EUR 18,00 (AT)

Eine erhellende meditative Annäherung an das Vaterunser. (PR)

Bruder David Steindl-Rast, Benediktiner aus Mount Saviour und gesuchter spiritueller Lehrer, macht es sich im vorliegenden schmalen Band zur Aufgabe, das Vaterunser – das eigentlich für einen ausgewählten Jüngerkreis bestimmt war – allen Menschen in einer Sprache nahe zu bringen, welche von diesen auch nachvollzogen werden kann. Für sein Unterfangen greift er auf das lange Zeit vergessene, im Frühchristentum aber weit verbreitete und nur Eingeweihten bekannte »Sator-Quadrat« zurück, welches im christlichen Kontext auf das Vaterunser und Jesus Christus verweist. Anhand dieses Geheimzeichens werden der Aufbau, die tiefsinnige Anordnung der sieben aufeinander bezogenen Bitten und die reiche Symbolik des Herrengebetes erschlossen. »Herzstück« sind jedoch die erhellenden Erwägungen des Autors, der die vielschichtigen Anliegen der Vaterunser-Bitten gleichsam in Form von kurzen Meditationen umkreist und so ihre theologische Bedeutungsfülle offenlegt. Nicht unerwähnt bleiben soll der Part der geistlichen Begleiterin und Medizinsoziologin Brigitte Kwizda-Gredler, die nach jeder Bitte in einen Dialog mit Bruder David eintritt, um mit ihren Rückfragen, Hinweisen und Anregungen dessen Erwägungen zu »erden« und zu konkretisieren, zumal das Vaterunser Betende in der Verantwortung stehen, das Erbetene im privaten wie im politischen Leben zu verwirklichen. Eine originelle und tiefgründige meditative Annäherung an das bedeutendste Gebet der Christenheit.

Karl Krendl | biblio

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