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biblio : aktuelle buchtipps

Buchtipps / 2019 / November

erstellt von der STUBE und dem Österreichischen Bibliothekswerk

Nancy Springer: Der Fall des verschwundenen Lords

: ein Enola Holmes Krimi / Nancy Springer. Aus dem Amerikan. von Nadine Mannchen. - München : Knesebeck, 2019. - 189 S.
ISBN 978-3-9572826-0-6      fest geb. : ca. € 15,40

Das Leben als Mädchen im Jahr 1888 ist nicht leicht, vor allem dann nicht, wenn man von einem Freigeist und einer Verfechterin des Frauenwahlrechts erzogen wird und im Schatten des berühmten Meisterdetektivs Sherlock Holms steht - wie die bücherliebende und kombinierfähige Enola Holmes. "Mädchen haben mit Puppen zu spielen", heißt es im Text. Dass das auch im 19. Jahrhundert nicht stimmen muss, zeigt die 14-jährige Protagonistin der neuen Kinder-Krimi-Reihe. Nach dem zunächst unerklärlichen Verschwinden ihrer Mutter hat Enola vorerst aber andere Sorgen. Sie wendet sich an ihre älteren Brüder, die sie wenig ernstnehmen und ihr nahezu jede Intelligenz absprechen, schließlich ist sie in ihren Augen "nur" ein kleines Mädchen. Nach der ersten Trauer entdeckt sie, dass ihre Mutter keineswegs entführt wurde, sondern sich ganz bewusst für ihr Verschwinden und den Ausbruch aus der männerdominierten Welt, in der Frauen stickende und strickende Damen zu sein haben, entschieden hat. Durch die herablassende Haltung ihrer Brüder fasst Enola den Entschluss, dem Beispiel ihrer Mutter zu folgen und verschwindet vom familiären Anwesen.
Dieser gelungene Reihenauftakt ist vor allem darum bemüht, in das Setting einzuführen. Dabei wird wunderbar verdeutlicht, wie sich das alltägliche Leben gestaltete: Kerzen statt Lampe, Kutschen statt Autos, heißer Teekessel statt Warmwasserleitung u.v.m. Ein gewitztes, cleveres Mädchen, das sich die Vorzüge des Frauseins und die ausladenden Gewänder der damaligen Zeit zunutze macht - unter weiten Röcken lassen sich hervorragend die verschiedensten nützlichen Utensilien verstecken -, begibt sich dabei auf den Weg nach London. Nach der beschwerlichen Anreise, wo sie zwischendurch in den Kriminalfall rund um das Verschwinden des 12-jähirgen Lord Tewksbury involviert wird, landet sie in der Großstadt, in der sie weniger die Glanzseiten, sondern vielmehr die Armut und das Elend in den Randbezirken kennenlernt. Mit ihrer Vorstellung hat das nicht viel gemein, zumal sie kurzerhand in die Hände von Entführern gelangt, die sie in einem Schiffsrumpf festhalten. Dass der tatsächliche Kriminalfall in diesem ersten Teil wenig Raum erhält, tut der Spannung des Kinderkrimis keinen Abbruch. Durch das Einschreiben von gattungstypischen Aspekten, wie die Fragen nach dem Wer? Wann? Warum? sowie die genial gezeichneten Charaktere und die Emanzipation der jungen Protagonistin, die sich hervorragend aufs Dechiffrieren versteht, entsteht eine durchwegs runde Geschichte über die womöglich jüngste Meisterdetektivin, die wiederum ihren Bruder Sherlock Holmes in den Schatten stellt.

Alexandra Hofer | STUBE

 

Das Neinhorn

/ Marc-Uwe Kling [Text]. Astrid Henn [Ill.]. - Hamburg : Carlsen , 2019. - [36] S. : überw. Ill.
ISBN 978-3-551-51841-5      fest geb. : ca. € 13,40

Im Land der Träume kommt ein "schnickeldischnuckelig" süßes Einhorn zur Welt, das seiner Familie ganz schön zu schaffen macht. Denn es benimmt sich nicht wie ein typisches Einhorn, das gerne in Reimen spricht, immer gute Laune hat, gezuckerten Glücksklee frisst, Mittagsschlaf auf Kuschelwölkchen macht oder mit Feen Ballett tanzt. Die Einhornfamilie ist ratlos, warum das kleine NEINhorn, das aufgrund seines ständigen "Nein"-Sagens umgetauft wurde, nicht genauso froh ist wie sie, und beginnt langsam zu akzeptieren, dass ihm das "normale" Einhorn-Verhalten nicht beizubringen ist. Nach der Abhaltung eines doppelseitig illustrierten Familienrats wechselt die in Reimen gehaltene Erzählung zu einem reimlosen Text, da das NEINhorn sich aus dem Herzwald, in dem die Einhörner leben, begibt, um andere Orte, wie zum Beispiel das "Nirgends" zu erkunden und um zu tun, worauf es Lust hat: "daraufhin spielte es den ganzen restlichen Tag im Schlamm. Es fraß angedatschte Äpfel, bis ihm schlecht war, und jagte mit gesenktem Horn irre niedliche Katzenbabys auf Bäume. Nur so zum Spaß natürlich." Allerdings hört der Sprachwitz, der von Anfang an in die Geschichte einfließt, damit nicht auf, sondern beginnt ab diesem Zeitpunkt erst so richtig, denn das Einhorn trifft auf gleichgesinnte Gefährt_innen, die ähnlich wie es selbst, ihre Eigenart im Namen tragen.
Marc-Uwe Kling spielt nicht nur mit den Tiernamen, sondern auch mit den Konventionen von märchenhaften Erzählungen, indem er ab und zu schelmische Andeutungen auf bekannte Narrative macht oder diese auch verkehrt. "Da kamen sie an einem großen Turm vorbei. Ganz oben war eine Prinzessin eingesperrt. Das ist ja klar, denn in solchen Türmen ist ganz oben immer eine Prinzessin eingesperrt." Die vier Antiheld_innen können nicht nur gemeinsam schlechte (manchmal sogar gute!) Laune haben, sondern auch super Gespräche miteinander führen: "Nein! Doch! Was? Nein! Na und? Was? Doch!" und erinnern mit ihren eigenwilligen Charakterzügen dabei nicht nur einmal humorvoll an die vielen verschiedenen Situationen, die auch dem kindlichen Alltag eingeschrieben sind.

Marina Gennari | STUBE

Bettina Wohlfahrth: Wagfalls Erbe

: Roman / Bettina Wohlfarth. - Hamburg : Osburg, 2019. - 438 S.
ISBN 978-3-9551018-0-0      fest geb. : ca. € 22,60

Ein Kunstfälscher-Roman mit historischem Hintergrund. (DR)

Bettina Wohlfahrt lebt seit 1990 als freie Übersetzerin und Journalistin in Paris und berichtet für die Frankfurter Allgemeine Zeitung regelmäßig über den Pariser Kunstmarkt. Derart vorbelastet gruppiert sich Wohlfahrts Debütroman um den Kunstfälscher Isidor Schweig, mit dem wir eingangs gemütlich durch das Paris des Jahres 1936 schlendern. Bald darauf treffen wir auf die im Hier und Jetzt lebende Karolin Wagfall, die auf dem Dachboden zwölf Hefte entdeckt, die nach und nach das geheime Doppelleben ihres 1914 geborenen und mittlerweile gestorbenen Vaters Viktor offenbaren: Der biedere Vater, den sie als leitenden Angestellten bei der Bahn gekannt hatte, war für kurze Zeit seines Lebens zugleich niemand anderer als jener Bohemien Isidor Schweig gewesen. Dieser erzählerische Rahmen bietet Wohlfahrt die Bühne, um über Vater-Tochter-Beziehungen, das Verhältnis von Frankreich zu Deutschland, von Original zu Fälschung, von Boheme und Biedermann zu reflektieren und nicht zuletzt das menschliche Handeln in Friedens- und Kriegszeiten zu hinterfragen. Denn es stellt sich heraus, dass Viktor nicht nur 1936, sondern auch während der deutschen Besatzungszeit in Paris war und dort als Oberinspektor der Reichsbahn am massenhaften Abtransport geraubter Kunst beteiligt war. So gelingt es Wohlfarth, quasi als übergreifendes Thema, ihr offenbar reichliches Hintergrundwissen über den Kunstraub der Nazis einzubringen. Dieses Wissen hätte vermutlich auch für ein tiefgründiges Sachbuch gereicht, uns aber um den Genuss einer mit den Fakten verwobenen und gleichermaßen berührenden wie eloquenten Fiktion gebracht.

Simone Klein | biblio

Joe Mungo Reed: Wir wollen nach oben

: Roman / Joe Mungo Reed. Aus dem Engl. von Sylvia Spatz. - München : dtv, 2019. - 285 S.
ISBN 978-3-423-28177-5      fest geb. : ca. € 22,70

Wo ist die Grenze der Leistung, welchen Platz haben Beruf und Familie in unserem Leben? - Ein Radroman. (DR)

Im vorliegenden Erstlingsroman beschreibt der englische Schriftsteller Joe Mungo Reed eine kleine Familie, die unter Druck steht: Sol ist Radprofi, Liz forscht als Biologin zur DNA von Zebrafischen. Die beiden sind seit ein paar Jahren verheiratet und haben einen kleinen Sohn. Vor diesem Hintergrund erzählt Sol die Geschichte seiner Teilnahme an der Tour de France. Die Leser_innen erhalten tiefe Einblicke in den Radsport und seine Abgründe. Sol ist zwar als Profi für eine englische Mannschaft dabei, er ist jedoch nicht der Star, sondern dient im Peloton, also in der fast organisch anmutenden Gruppe der Radfahrer, dem Kapitän seiner Mannschaft Fabrice als Schutzschild gegen den Wind, als Unterstützung, Tempomacher und Jausenholer, eine Rolle, die er voller Bewunderung für Fabrice reflektiert übernimmt. Immer wieder kommt Sol in seinen Reflexionen auf die Rolle des Pelotons zurück, auf die Frage, was der Einzelne in der Gruppe der Tour-Teilnehmer ist, die ihn, wenn er ausschert, einholt und überholt, die ihre eigenen Regeln hat, Schutz bietet und verschluckt, Nähe schafft und zu große Distanz bestraft. Die Frage nach seiner Rolle im Spannungsfeld von Selbstverwirklichung und Eingliederung treibt ihn auch im Team um, verlangt ja sein Trainer von ihm nicht nur die Einnahme von Doping-Mitteln, sondern missbraucht noch zusätzlich seine Frau Liz, die Sol während der Tour besucht, als Drogenkurierin. Als Liz verhaftet wird und in der Folge ein tödlicher Unfall die Tour erschüttert, gerät Sols Weltbild und Lebensentwurf endgültig ins Wanken. Ein Roman, der anschaulich anhand der Extremsituation der Tour de France Fragen nach der heutigen Leistungsgesellschaft stellt, danach, wie viel wir zu geben bereit sind und wo unsere Beziehungen bleiben. Auch Nicht-Sportinteressierten sehr zu empfehlen.

Monika Roth | biblio

Bastienne Voss: Grünauge sieht dich

: Roman / Bastienne Voss. - Wien : Picus Verl., 2019. - 253 S.
ISBN 978-3-7117-2088-7      fest geb. : ca. € 24,00

Roman über deutsch-deutsche Schicksale kurz vor und während des Mauerfalls. (DR)

Leo Landowski arbeitet für den Geheimdienst der DDR. Er lebt alleine mit seiner 16-jährigen Tochter Iris, die nur ansatzweise weiß, was ihr Vater beruflich macht. Von klein auf ist sie darauf gedrillt, auf diesbezügliche Fragen die einstudierten Antworten zu geben.
In einem Kurzurlaub verliebt sich Iris ausgerechnet in das Überwachungsziel ihres Vaters. Unter dem Vorwand zelten zu gehen, trifft sie sich in der Folge heimlich mit dem wesentlich älteren Mann und stellt sein bisheriges Leben auf den Kopf. Auf den ersten Blick scheint es, als ob sie nur ihren Vater belügt und er schlicht seine Ehefrau betrügt. In Wirklichkeit sind im Hintergrund längst die Geheimdienste alarmiert.
Eine humorvoll geschilderte Lebenssituation vor dem keineswegs lustigen Hintergrund der Bespitzelung von Personen zu Zeiten der DDR. Die Handlung wird in klarer, teils ironischer Sprache erzählt, wobei zahlreiche Zitate aus Lyrik und Musik geschickt eingeflochten werden.
Ein spannender und fesselnder Roman, der auch zum Nachdenken über unsere Moralvorstellungen einlädt. Sehr empfehlenswert.

Uschi Pirker | biblio

Ingrid Brodnig: Übermacht im Netz

: warum wir für ein gerechtes Internet kämpfen müssen / Ingrid Brodnig. - Wien : Brandstätter, 2019. - 207 S.
ISBN 978-3-7106-0366-2      fest geb. : ca. € 20,00

Die kluge Abhandlung setzt sich mit den aktuellen, vorherrschenden Machtverhältnissen im Internet auseinander. (GM)

Jedes Kapitel des hochinteressanten Sachbuches von Ingrid Brodnig beleuchtet einen anderen Aspekt des Internets, in welchem Konzerne ihre Macht schamlos ausnutzen, immer auf Kosten der NutzerInnen. Dazu gehört etwa das Sammeln, Auswerten und Verkaufen von Nutzerdaten. Weitere Kritikpunkte sind das Ausnutzen diverser Steuertricks, mit denen Konzerne Unsummen an potenziellen Steuergeldern (bislang legal) einsparen, sowie der Einsatz von nicht ausgereiften künstlichen Intelligenzen.
Dabei wird Brodnigs Kritik mit einer Vielzahl von Beispielen, Expertenmeinungen aus Interviews und mit über 200 Quellenangaben untermauert. Das Buch spannt einen Bogen von der Vergangenheit bis zu einer möglichen dystopischen Zukunft. Wie kam es dazu, dass die Macht im Internet, welches doch ein freier, demokratischer Raum für jede und jeden hätte sein sollen, auf einige wenige Konzerne, wie Facebook, Google und Amazon, konzentriert ist? Was ist der Grund dafür, dass selbst Regierungen aus dem verschiedensten Ländern teilweise machtlos sind? Die Autorin spricht diese kritischen und hochaktuellen Probleme jedoch nicht nur an, sondern gibt auch viele detaillierte Ratschläge, wie man selbst als Einzelperson sich dagegen auflehnen kann.
Das Buch schafft es, auch teils technisch anspruchsvollere Themen, wie die erwähnten künstlichen Intelligenzen oder die steuerrechtlichen Probleme Europas in Bezug auf internationale Konzerne, für Laien sehr verständlich zu erklären.
Der Titel ist sehr zu empfehlen, vor allem für jene, die sich schon einmal gefragt haben, welche Informationen jeder und jede unfreiwillig im World Wide Web preisgibt.

Bernhard Stöllinger | biblio

Walburga Hülk: Der Rausch der Jahre

: als Paris die Moderne erfand / Walburga Hülk. - Hamburg : Hoffmann und Campe, 2019. - 414 S.
ISBN 978-3-455-00637-7      fest geb. : ca. € 26,80

Paris zwischen 1850 und 1870. (GE)

Als im Dezember 1851 Louis Napoleon, Präsident der Zweiten Republik, durch einen Staatstreich die alleinige Macht übernahm, 1852 erfolgte die Proklamation zum Kaiser, veränderte sich Frankreich schlagartig - und damit auch Paris.
Frankreich wurde zum Zentrum der Welt und Paris jener Ort, von dem die Macht ausging. Das Land und die Stadt veränderten sich äußerlich und innerlich. In Paris wurden ganze Stadtviertel weggerissen, um prächtige Straßen und Gebäude errichten zu können. Eisenbahnen, Fabriken, Bergwerke, der Suezkanal und moderne Kriegstechniken gestalteten Frankreich und seine Menschen neu.
Die Autorin begleitet die LeserInnen auf dieser Reise durch Unbekanntes. Man begegnet den Bonapartes, Hugo, Goncourt, Flaubert, Baudelaire und Zola. Weltausstellungen, moderne Meisterwerke der Kunst und eine neue Form von Berichterstattung, die Sensationspresse, bestimmen den Alltag.
Walburga Hülk gelingt es, Faktenwissen und Anekdotenhaftes geschickt miteinander zu kombinieren, sodass das Lesen ihres Buches zum wahren Vergnügen wird.

Kurt Haber | biblio

Christian Kummer: An Gott als Person glauben?

: eine Spurensicherung / Christian Kummer. - Ostfildern : Matthias Grünewald, 2019. - 248 S.
ISBN 978-3-7867-3178-8      fest geb. . ca. € 25,70

Der Weg zu Gott führt über den Glauben. (PR)

Was veranlasst uns, einen Gott anzunehmen, der als Schöpfer der Welt in Frage kommt? Wie kommt der Mensch dazu, seine religiösen Erfahrungen mit der Vorstellung eines personalen Gottes zu verbinden? Das sind genau die Grundfragen, um die sich das Buch dreht. Christian Kummer, Biologe und Theologe, versucht mit allen Mitteln der moderner Wissenschaft sowie den Denkströmungen der zeitgenössischen Philosophie, dem heutigen durch naturwissenschaftliches Denken geprägten Menschen diese Thematik zu erläutern. Er geht davon aus, dass wir alle zu 95 % Naturalisten sind, aber für die restlichen 5 % in jedem von uns ist dieses Buch geschrieben. Denn alles braucht einen letzten Grund - und das ist Gott. Ein Gott, der an seinen Geschöpfen "interessiert" ist - das heißt, dass ich bin, weil Gott mich will - das ist Schöpfungsglaube.
Unsere Wirklichkeitserfahrung ist perspektivisch, was sich in einer Vielzahl von nebeneinander bestehenden Erfahrungswelten äußert. Daher darf auch eine religiöse Erfahrung nicht ausgeschlossen werden. Man kann sich dieser Wirklichkeit nur dialogisch nähern, ohne sie je zu erfassen. Mag das subjektive Erlebnis der göttlichen Gegenwart noch so stark sein, es bleibt subjektiv und wird sich niemals in objektive Gültigkeit transformieren lassen. Ohne Glauben ist Gott nicht zu haben.
Dem Autor gelingt es, in seinem Buch die Menschen anzuregen, ihren Glauben kritisch zu durchleuchten und gleichzeitig einen Zugang zu einer personalen Gottesvorstellung zu entwickeln. Empfehlenswert!

Ingrid Preßl | biblio

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