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biblio : aktuelle buchtipps

Buchtipps / 2022 / Juni

erstellt von der STUBE und dem Österreichischen Bibliothekswerk

Line Baugstø: Wenn wir doch nur Löwen wären

/ Line Baugstø ; aus dem Norwegischen übersetzt von Andreas Donat.
- Luftschacht : Wien, 2022. - 144 Seiten
ISBN 978-3-903422-04-9       Broschur : EUR 16,00 (AT)

»Löwen sind starke und mutige Tiere. Sie leben in Rudeln und passen aufeinander auf. […] Aber ich fühle mich nicht wie ein Löwe, Leona. Ich fühle mich wie eine winzig kleine und ängstlich Maus.«
Die 12-jährige Malina versucht ihren Platz innerhalb ihrer Klasse zu finden: Sie und die anderen Mädchen darin sind dabei vollauf damit beschäftigt, sich mit den kleinen und großen Problemen des Erwachsenwerdens auseinanderzusetzen – wer ist mit wem befreundet; wer ist in der körperlichen Entwicklung schon weiter? Die Protagonistin ist zwar Teil dieser Klasse, fühlt sich aber nicht ganz zugehörig. Als Leona als neue Schülerin in die Klasse kommt, sieht sie ihre Chance, in ihr eine neue beste Freundin zu finden. Dieses Vorhaben gelingt auch, recht schnell wird aber klar, dass Leona ein Geheimnis hat, sie sich manchmal komisch verhält und warum sie in der Umkleide eine Umziehkleid trägt, kann auch niemand so genau sagen. Für Malina tut das aber auch nichts zur Sache, denn Leona und sie haben nicht nur den Traumberuf der Schriftstellerin gemein, sondern sie fühlen sich auch in der Gegenwart der je anderen sehr wohl. Bis die Tatsache ans Licht kommt, dass Leona einmal Leon war.
Aus Malinas Außenperspektive wird ein Blick auf Transgender geworfen, ohne es problemorientiert aufzubauschen. Vielmehr geht es um Freundschaft und Akzeptanz von unterschiedlichen Körperkonzepten für ein jüngeres Lesepublikum. Einfach erzählt, aber keineswegs banal stellt die norwegische Autorin eine kindliche Figur an der Schwelle zur Jugend ins Zentrum, die ihren Vorstellungshorizont neu (an)ordnen muss und zeichnet auf sensible Weise, wie Verständnis – auch mit Hilfe von erwachsenen Figuren, aber ohne erhobenen Zeigefinger – und ein respektvoller Umgang nach anfänglicher Unsicherheit gelingen kann. Der bereits im Titel angesprochene Löwe findet dabei auf unterschiedlichen Ebenen Einzug und verweist nicht nur auf die Namensgebung von Leona, sondern ist auch Zeichen des Zusammenhalts, wenn am Ende die Frage »Kann sich eine Maus in einen Löwen verwandeln? Ist das möglich?« mit einem einfach Ja beantwortet werden kann.

Alexandra Hofer | STUBE

Sophie Gonzales: Theoretisch perfekt

/ Sophie Gonzales ; aus dem Englischen von Doris Attwood.
- München : cbj, 2022. - 398 Seiten
ISBN 978-3-570-16617-8       Broschur : EUR 15,50 (AT)

Kummerkasten mal anders: Jede*r weiß, dass Spind 89 eigentlich in keinem Besitz ist. Und niemand weiß, wer dennoch all die Briefe, die die Schüler*innen mit ihren Liebes- und Beziehungsproblemen dort hineinstecken, beantwortet. Niemand, außer Darcy Philipps, die sich als Hobbypsychologin für die Beantwortung der Fragen auf einfühlsame wie reflektierte Weise verantwortlich zeichnet. Und das sollte auch tunlichst so bleiben. Dabei hat sie die Rechnung allerdings ohne Alexander Brougham gemacht, der seinerseits ihre Identität lüftet, um selbst Unterstützung in Sachen Liebe zu bekommen. Was als eine einfache Geschäftsbeziehung zwischen den beiden jugendlichen Figuren, die aus Darcys Perspektive erzählt wird, beginnt, entwickelt sich schnell zu einer Freundschaft, in der man weiß, was es heißt, füreinander da zu sein. Beide Figuren sind an sich nicht unversehrt: beide leben in dysfunktionalen Beziehungen. Darcy hat in ihrer Schwester aber den Ort der Geborgenheit, den Brougham in seiner Familie schmerzlich vermisst.
Eine Besonderheit des Romans ist dabei die Verortung der Protagonistin in einer queeren Community, die sich auch in einer geschlechtersensiblen Schreibweise in der deutschen Übersetzung niederschlägt, in der immer die Frage nach einer jugendlichen Identitätsfindung mitschwingt. In einem atmosphärisches Highschoolsetting verpackt, erzählt Sophie Gonzalez von freundschaftlichen Beziehungen und der Entwicklung zu romantischen Gefühlen, von Loyalität, Verrat und Wiedergutmachung und diversen Familiengefügen, in denen die Figuren verortet werden. Dabei ist weder die Figurenzeichnung noch die Ausstaffierung des Erzählten überladen, sondern bildet unterschiedliche Lebensrealitäten ab, die allesamt einem adoleszenten Blick verpflichtet bleiben. Der Text zeigt auf wunderbare Weise die unterschiedlichen Ebenen und Qualitäten von Beziehung ebenso wie den Stellenwert von Selbstbewusstsein und Empathie.

Alexandra Hofer | STUBE

Antoine Laurain: Eine verdächtig wahre Geschichte

: Roman / Antoine Laurain ; aus dem Französischen von Claudia Kalscheuer.
- Hamburg : Hoffmann und Campe, 2022. - 206 Seiten
ISBN 978-3-455-01202-6       Festeinband : EUR 23,70 (AT)

Morde in der Normandie und ein Roman, der scheinbar schon alles darüber weiß. (DR)

Der beliebte Stoff »Bücher im Buch« kommt im neuen Roman von Antoine Laurain gekonnt zum Einsatz: Alles dreht sich um einen Verlag, dessen Leiterin der Manuskriptabteilung Violaine, die gerade nach einem Flugzeugabsturz aus dem Koma erwacht, und einen Autor oder eine Autorin – das weiß niemand so genau –, der oder die mit dem renommiertesten französischen Literaturpreis ausgezeichnet werden soll, sich jedoch nicht zu erkennen gibt und unauffindbar bleibt. Nur der Roman ist allgegenwärtig, denn plötzlich steht die Polizei in Violaines Büro und befragt sie zu einer Mordserie, die den Geschehnissen in besagtem Buch ziemlich ähneln. Wer hat „Die Zuckerblumen“ geschrieben und wieso?
Im vorliegenden Werk werden Roman und Krimi gewitzt verbunden, zudem ist die Erzählung très französisch und überrascht immer wieder durch neue Wendungen bis hin zum clever verwobenen Ende. Violaines Fantasie, in der sie sich z.B. mit Marcel Proust im Jardin du Luxembourg verabredet, ist zudem eine sympathisch-augenzwinkernde Hommage an die Großen der Weltliteratur. Empfehlung!

Verena Marchner | biblio

Mareike Fallwickl: Die Wut, die bleibt

: Roman / Mareike Fallwickl. - Hamburg : Rowohlt, 2022. - 372 Seiten
ISBN 978-3-498-00296-1       Festeinband : EUR 22,70 (AT)

Frausein heute – ein ehrlicher Blick auf einen Familienalltag, ein zorniger Roman voller Wucht, Wut und Schmerz. (DR)

Helene steht beim Abendessen vom Tisch auf und springt vom Balkon, lässt ihre drei Kinder und einen überforderten Ehemann zurück. Wie erschöpft diese Frau, wie fordernd ihr Alltag, zugespitzt noch durch die Pandemie, war, hat niemand bemerkt oder ernst genommen. Nun ist sie fort, mit wenigen Schritten und einem Sprung aus zwölf Metern Höhe aus ihrem Leben verschwunden, ohne sich umzublicken. Wie Helenes 15-jährige Tochter Lola und Helenes beste Freundin Sarah mit diesem Verlust umgehen, das schildert die österreichische Autorin Mareike Fallwickl in ihrem intensiven neuen Roman.
Für die tiefe Verletztheit der Hinterbliebenen, deren Trauer und Wut angesichts der Unfassbarkeit des Geschehenen findet sie starke, auch sehr poetische Worte. Nach und nach schält sich aus dem abwechselnd aus Lolas und Sarahs Perspektive verfassten Text das Bild eines Frauenlebens heraus, einer liebevollen Mutter, die mit der Fürsorgearbeit allein war, die nicht jammerte, Chaos und Überforderung mit Galgenhumor nahm. Warum nur fällt so vieles erst auf, wenn da eine Lücke ist? Wenn da plötzlich keine mehr da ist, die sich kümmert?
Fallwickl greift viele feministische Themen auf, die Frauen unterschiedlicher Generationen umtreiben und aufreiben. Brutal ehrlich und unglaublich authentisch schreibt sie von der Rollenverteilung zwischen Mann und Frau, dem Ungleichgewicht bei der Care-Arbeit, von mental load, von all den kleinen Beobachtungen, die wir in unserem Alltag machen und oft unkommentiert lassen. Wie gut es tut, dass endlich so echt davon erzählt wird!
Unfassbar, wie sich dieser Familienvater nach dem Tod seiner Frau aus dem Familienalltag ausklinkt und stattdessen die an einer Magersucht knapp vorbeischrammende, wissbegierige Teenager-Tochter in die Rolle der Kümmerin drängt. Wie es ihm zupass kommt, dass Helenes beste Freundin bei ihnen einzieht, monatelang den Haushalt führt und die Kleinkinder versorgt. Berührend, wie sie, die erfolgreiche Autorin und kinderlos, mit einem Mal die zermürbende Last dieser Fürsorgearbeit kennenlernt und merkt, wie sehr man dabei an seine Grenzen gelangt. Und dass es immer noch ein Tabu ist, zu bekennen, wie erschöpfend so ein Alltag ist. Denn wie zugeben, dass man sich das einfacher vorgestellt hat? Das Kinderhüten, das macht doch jede mit links.
Lola und Sarah, zwei sehr interessant gezeichnete Figuren: Sie beide finden einen Weg aus der Trauer, stützen einander, reflektieren, wie sie leben wollen, und ergreifen, die eine radikaler als die andere, die nötigen Mittel dazu. Ein aufwühlender, gut geschriebener Roman, der Diskussionen anstößt über das Rollenmodell von Mann und Frau und wie man es aufbrechen könnte, um nicht wie Helene Opfer dieses »Systems« zu werden. Ein Buch, das wehtut, wehtun muss, um aufzurütteln. Unbedingt einstellen, lesen und darüber sprechen – sehr empfehlenswert für alle Büchereien! Und, ja, die Wut, die bleibt!

Cornelia Gstöttinger | biblio

Axel Hacke: Ein Haus für viele Sommer

/ Axel Hacke. - München : Verlag Antje Kunstmann, 2022. - 284 Seiten
ISBN 978-3-9561448-3-7       Festeinband : EUR 24,70 (AT)

Dolce far niente - Inselalltag im Mittelmeer. (DR)

Axel Hacke bringt mit seiner Liebeserklärung an eine italienische Insel und die Kunst des Nichtstuns vielleicht gerade das in unsere Zeit, was am meisten fehlt: Unbeschwertheit. Humorvoll berichtet er vom Alltag seiner Familie, den deutschen Bewohnern des historischen Torre im Ortszentrum, die seit Jahrzehnten jeden Sommer auf der Mittelmeerinsel verbringt. Liebevoll charakterisiert er gleichermaßen Wahlitaliener und alteingesessene Elbaner, zitiert seine Nachbarn auf Italienisch, ohne auf eine treffende Übersetzung zu vergessen, blickt mit einem Augenzwinkern auf seine eigenen größeren und kleineren Schwächen und jene seiner Mitmenschen.
Probleme beim Einparken mit einem Fiat 500, unliebsame tierische Hausgäste im Weingarten vor den Toren des Dorfes oder ein schlechter Anlegeplatz für das Boot – mit diesen Sorgen lässt es sich leben, am besten bei einem Aperitivo in der »ganz bestimmten Bar«. Axel Hackes Text macht Reiselust – zumindest im Kopf – und vermittelt die süße Leichtigkeit des Seins. Eine entspannende Lektüre zum Tagträumen und Abschalten, nicht nur für Sonnenhungrige und Italien-Liebhaber*innen!

Sandra Brugger | biblio

Hannah Ross: Revolutions

: wie Frauen auf dem Fahrrad die Welt verändern
/ Hannah Ross ; aus dem Englischen von Daniel Beskos.
- Hamburg : mairisch Verlag, 2022. - 319 Seiten
ISBN 978-3-948722-14-2       Festeinband : EUR 24,70 (AT)

Die Geschichte des Fahrradfahrens aus weiblicher Sicht. Welche Rolle spielt es im Hinblick auf die Emanzipation der Frauen? (GK)

Fahrradfahren ist ökonomisch und ökologisch sinnvoll, macht Spaß und hilft, fit und beweglich zu bleiben. Es ist ein Fortbewegungsmittel, das für Menschen jeden Alters geeignet ist. Wobei Menschen Männer meint, wie Hannah Ross in ihrem Buch »Revolutions« eindringlich schildert. Frauen mussten sich das Recht, Fahrrad zu fahren, erst erkämpfen. Es handelt sich dabei um einen Kampf, der bis heute nicht abgeschlossen ist.
Hannah Ross erzählt die Geschichte des Fahrradfahrens aus weiblicher Sicht. In vier Kapiteln behandelt sie die Anfänge im 19. Jahrhundert und schlägt einen historischen Bogen bis in die Gegenwart. Sie zeigt, dass das Fahrrad den Frauen ermöglicht hat, sich ein Stück weit aus dem patriarchalen System herauszuschälen und unabhängig zu werden. Dafür zahlten sie nicht selten einen hohen Preis. Zur Verdeutlichung dienen die Biografien von »Rad-Pionierinnen, Rennfahrerinnen, Feministinnen und Abenteurerinnen«, die mutig in die Pedale der »feministischen Freiheitsmaschine« getreten sind bzw. treten.

Petra Fosen-Schlichtinger | biblio

Sophie Collins: Samenwunder

: Blumen & Gemüse selbst ziehen / Sophie Collins ; Melissa Mabbitt.
- Stuttgart : Kosmos, 2022. - 144 Seiten : Illustrationen
ISBN 978-3-440-17439-5       Festeinband : EUR 16,50 (AT)

Eine Ermutigung, Gemüse und Blumen selber anzubauen. (NL)

Alles hat seinen Anfang und so auch die Lust zu gärtnern. Besitzt man das Privileg, ein Stückchen Erde sein Eigen zu nennen, und befindet es sich auch nur auf dem Balkon, sollte man versuchen, sein Gemüse und seine Blumen selber anzubauen. Als Anfänger*in ist es schwer vorstellbar, seine Pflanzen eigenhändig zu ziehen, aber einen Versuch ist es allemal wert.
Von der Aussaat über die Keimung und den richtigen Platz der einzelnen Gewächse kann man sich in diesem Buch wunderbar informieren. Es werden die Besonderheiten vieler Pflanzen erwähnt, auch wie man einen Gartenkalender anlegt, Schnittblumen selber zieht oder mit Kindern gärtnert, wird thematisiert. Es wird darauf hingewiesen, wie wichtig ein guter Gartenplan ist, und auch der richtige Zeitpunkt für die einzelnen Tätigkeiten wird ausgiebig beschrieben.
Rund um Akelei, Löwenmäulchen, Kosmeen oder Tomaten, Zuckererbsen und Karotten bis hin zu Themen, wie man Samen für das nächste Jahr erntet, findet man vielerlei Tipps und Tricks zum Ausprobieren. Im Sinne der Nachhaltigkeit wird auch die Tierwelt nicht vergessen und zu guter Letzt bekommt man einen ausführlichen Einblick in die Samenproduktion und die Möglichkeit, sie mit anderen Gartenliebhaber*innen zu tauschen.
Herrliches Bildmaterial, ein Glossar und nützliche Zusatzinfos runden das Buch eindrucksvoll ab. Empfehlenswert für alle Gartenliebhaber*innen.

Ilse Hübner | biblio

Markus Hofer: Das Heilige und das Nackte

: eine Kulturgeschichte / Markus Hofer. - Innsbruck : Tyrolia Verlag, 2022.
- 188 Seiten : Illustrationen
ISBN 978-3-7022-4052-3 Festeinband : EUR 28,00 (AT)

Durchblicke zu einem spannungsvollen Thema. (PR)

Auf den ersten Blick scheinen sich die beiden Titelthemen auszuschließen, der zweite Blick belehrt eines Besseren - so einfach ist es dann doch wieder nicht. Vielmehr tut sich hier ein Spannungsfeld auf, in dem es um Fragen der Sexualität und des Umganges damit geht, um den Ursprung von Scham, um eine kultische Nacktheit und vieles mehr. Damit einher spielen die Darstellung von Sehnsüchten, Projektionen, Doppelmoral und noch viele andere Faktoren eine Rolle.
Hofer geht diesen vielschichtigen Fragen auf spannende und unterhaltsam zu lesende Art nach. Dazu begibt er sich auf einen Erkundungszug durch verschiedenste Epochen und Kulturen, schaut in die Bibel, in Kirchen und in die Kunstsammlungen von Fürsten und kommt zu dem Ergebnis, das Heilige und das Nackte schließen einander nicht aus. Feststellen lässt sich aber, dass je rigider die Sexualmoral einer Gesellschaft wird, umso verkrampfter ist ihre Einstellung zur Nacktheit - was sich dann auch in der Kunst manifestiert, etwa in der Art, wie Heilige dargestellt werden. Hier geht es dann oft nicht mehr um die dargestellte Person, sondern nur noch um die Nacktheit.
Durch die reichhaltige Illustration des Bandes lassen sich die Beispiele gut nachvollziehen. Der Autor arbeitet heraus, dass es sich beim Heiligen und Nackten nicht um einen Gegensatz handelt, sondern vielmehr um ein Spannungsfeld, dem sich jede Epoche und auch jeder im Einzelnen stellen muss.
Ein in Kompetenz, Sachlichkeit und Unvoreingenommenheit gelungener Beitrag!

Hanns Sauter | biblio

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