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biblio : aktuelle buchtipps

Buchtipps / 2022 / November

erstellt von der STUBE und dem Österreichischen Bibliothekswerk

Kati will Großvater werden

/ Text: Signe Viška ; Illustrationen: Elina Braslina. - Zürich : Atlantis, 2022.
- 32 Seiten : Illustrationen
ISBN 978-3-7152-0847-3      Festeinband : EUR 18,50 (AT)

Andere Kinder wollen Pirat*innen werden, Ritter*innen oder Raumfahrer*innen. Katis Träume sehen anders aus: Ihr sehnlichster Wunsch ist es, Großvater zu werden. Denn nur Großväter können echte »Großvaterdinge« tun: Sie haben große Hände zum Akkordeon spielen. Sie haben immer Bonbons und Streichhölzer in ihren Taschen. Und sie haben es niemals eilig. Traditionell mit unseren Vorstellungen vom »Alter« verknüpfte Attribute wie Behäbigkeit, Langsamkeit und Müßiggang, die im Kontext kapitalistischer Gesellschaften zumeist negativ konnotiert sind, erfahren in dem großformatigen bunten Bilderbuch der aus Lettland stammenden Autorin Signe Viška und der Illustratorin Elina Braslina eine Aufwertung. Da die Protagonistin Kati als kindliche Figur noch nicht in vorgefertigten Denkweisen verhaftet ist, kann sie den jungen Leser*innen die Vorzüge des Alters auf schlüssige Weise erfahrbar machen. In geradliniger Sprache und frech-vergnügtem Ton vollzieht das Buch Katis Versuche nach, ein Opa mit weißem Rausche-Haar, Strickjacke und großen Händen zu werden – und die mit Watte und Wolle herbeigeführte Transformation gelingt, bald schon sitzen zwei gemütliche alte Männer bei Tisch und trinken ihre Milch. Komplementiert wird das Lesevergnügen durch die bewegungsreichen, manchmal doppelseitigen Bilder, in denen die Figuren mit expressiven, oft krakelig wirkenden Strichen in Szene gesetzt werden. Durch ihren Detailreichtum und das wiederholte clevere Einbauen großväterlicher Charakeristika – wie z. B. Wolken oder Hundeschöpfen, die Haarpracht des Opas gleichen, laden sie zum genauen Schauen ein.

Lena Brandauer | STUBE

Sarah Jäger: Schnabeltier deluxe

/ Sarah Jäger. - Originalausgabe - Hamburg : Rotfuchs, 2022. - 203 Seiten
ISBN 978-3-499-00911-2       Festeinband : EUR 20,60 (AT)

An dem Tag, an dem die Kaffeemaschine der Klassenlehrerin dem Urknall gleich am Asphalt vor dem Schulgebäude zerspringt, versinkt Kim nur kurze Zeit später langsam in einem Stuhl in der Direktion. Es sind nicht die Konsequenzen, die sie in diesem Moment kümmern, dafür ist die Genugtuung zu groß. Denn der Blick der Klassenlehrerin zeigt ihr ohne jeden Zweifel, »dass ich sie genau da getroffen habe, wo ich wollte, ohne sie auch nur berühren zu müssen«. Und das zählt. Es ist zwar bei Weitem nicht der erste nach außen gerichtete destruktive Wutanfall, den Kim in der Schule hat, es wird diesmal aber definitiv ihr letzter sein; das Ergebnis des Tages ist nämlich ein Schulverweis. Weil sie keine Schule in der Umgebung mehr aufnehmen möchte, startet Kims Mutter einen letzten Versuch und bittet ihren Ex-Freund um Hilfe, dessen Bekannter der Direktor einer kleinen Dorfschule ist. Dort darf Kim unterkommen und zieht für diese Zeit mit René (also besagtem Ex-Freund) und dessen miesepetriger Tante in ein Häuschen im Ort. Ihr Ziel: Es diesmal nur ja nicht zu vermasseln. Sich selber in den Griff bekommen.
Kim stolpert also in ihr neues Leben zwischen Kuhwiesen und Dorfschule, jobbt nebenbei in einem Tankstellenshop – und liefert dabei scharfsichtige Beobachtungen, die jedem ehemaligen Dorfkind zumindest ein Schmunzeln entlocken werden. In ihrem neuen Job trifft sie dann auch Janne. Janne, den talentlosen Jungfrisör, der zunächst einmal ihr genaues Gegenteil zu sein scheint. Wo sie sich in Neonfarben und so laut es geht in eine feindliche Welt wirft, versteckt sich der etwas unsichere Janne gerne unter weiter schwarzer Kleidung und scheint immer darum bemüht zu sein, nur ja nicht anzuecken. Trotzdem bauen die beiden eine vorsichtige Beziehung zueinander auf. Laut Kim aber natürlich keine Freundschaft, eher so etwas wie eine entfernte Bekanntschaft, wenn überhaupt.
Manche Entwicklungen im Plot sind vielleicht etwas vorhersehbar, trotzdem überzeugt Sarah Jäger auch in ihrem neuen Roman mit viel Feingefühl für ihre Figuren sowie sprachlicher Raffinesse und Prägnanz. Die Leser*innen bleiben dadurch immer ganz nah an dieser jugendlichen Ich-Erzählerin, die trotz ihrer immensen Angst verletzt zu werden, irgendwie versucht, sich durchzuschlagen. Und: Am Ende erfahren sie zum Glück auch noch, was es mit dem Schnabeltier auf sich hat.

Sarah Auer | STUBE

Anna Kim: Geschichte eines Kindes

: Roman / Anna Kim. - Originalausgabe - Berlin : Suhrkamp, 2022. - 221 Seiten
ISBN 978-3-518-43056-9       Festeinband : EUR 23,70 (AT)

Von den Bedingungen des Aufwachsens. (DR)

Was macht den Wert eines Menschen aus? In welches Umfeld wird er hineingeboren? Welche Faktoren beeinflussen seine weitere Entwicklung? Unter den Bedingungen des Aufwachsens sind die sozio-ökonomischen Voraussetzungen wohl am prägendsten für die weitere Entwicklung eines Kindes. Davon erzählt Anna Kim in ihrem Roman, der ins Jahr 1953 zurückgeht und auf wahren Begebenheiten basiert. Handlungsort ist der US-Bundesstaat Wisconsin, wo Daniel geboren und noch in derselben Nacht von der Mutter zur Adoption freigegeben wird. Er wächst im Waisenhaus auf. Das Ereignis könnte ebenso in Europa verortet sein, doch Anna Kim konzentriert sich auf die Zeit der Rassentrennung in den USA. Protokollarisch lesen sich die Notizen der Fürsorgerinnen, die Daniel im Waisenhaus und später in seiner Pflegefamilie besuchen: »Er hat bemerkenswert braune Augen. Negerfalten sind keine vorhanden.« (S. 53) Vielschichtig und mehrdeutig ist dieser Roman, der die Pole Herkunft und Zukunftschancen in die Waagschale legt und auslotet. Ein berührendes Dokument!
Anna Kim, 1977 in Südkorea geboren, wuchs in Deutschland und Wien auf, und wurde 2012 mit dem Literaturpreis der Europäischen Union ausgezeichnet. Empfehlenswert!

Cornelia Stahl | biblio

Miku Sophie Kühmel: Triskele

: Roman / Miku Sophie Kühmel.
- Frankfurt am Main : S. Fischer, 2022. - 269 Seiten
ISBN 978-3-10-397111-8       Festeinband : EUR 23,70 (AT)

Grandiose Familienaufstellung. (DR)

Miku Sophie Kühmels Familienroman beginnt und endet mit dem Brief einer Mutter, die sich selbst das Leben genommen hat, an ihre drei Töchter. Die ungleichen Schwestern, jede in einem anderen Jahrzehnt geboren, jede hat einen ihr nicht bekannten Vater, sind völlig verschieden und einander fremd. Doch im Trauerjahr rücken die drei nicht nur räumlich zusammen, die 15-jährige Matea zieht zur Ältesten, Mercedes, nach Berlin, wo auch Mira lebt. Die Pandemie und der Versuch, die Vergangenheit zu bewältigen, mit der Gegenwart umgehen zu lernen und die Mutter zu verstehen, bringt die Frauen einander und sich selbst näher.
Großartig webt die junge Autorin in zwölf nach den Monaten benannten Kapiteln eine Geschichte aus Informationen und Emotionen, in deren Mittelpunkt letztlich die vielen Facetten der Liebe stehen. Sehr lesenswert!

Sandra Brugger | biblio

Ralf Rothmann: Die Nacht unterm Schnee

: Roman / Ralf Rothmann. - Frankfurt am Main : Suhrkamp, 2022. - 303 Seiten
ISBN 978-3-518-43085-9       Festeinband : EUR 24,70 (AT)

Grandioser Roman über das Weiterwirken traumatischer Erfahrungen in der deutschen Nachkriegszeit. (DR)

Dieser Roman ist der letzte Teil von Ralf Rothmanns Trilogie über die deutsche Nachkriegszeit. Wir begegnen hier noch einmal Elisabeth und ihrem Mann Walter, die den Eltern des Autors nachempfunden sind. Die siebzehnjährige Elisabeth flüchtet im Winter vor Kriegsende mit ihrer Familie aus der Umgebung von Danzig vor der Roten Armee nach Westen. Sie geraten in einen Hinterhalt der feindlichen Truppen, bei dem alle außer Elisabeth ums Leben kommen. Elisabeth fällt in die Hände der sowjetischen Soldaten, die sie mehrfach auf brutale Weise vergewaltigen. Sie überlebt aber durch die Hilfe eines Sanitäters der Roten Armee und gelangt dann nach Norddeutschland. Der Roman schildert das weitere Leben von Elisabeth und ihrer Familie.
Zwei Themen bestimmen das Buch. Das eine ist die scheiternde Suche nach Liebe und Glück. Um mit ihren schrecklichen Erlebnissen fertig zu werden, stürzt sich Elisabeth immer wieder in Unterhaltung, Tanz und oberflächliche Männerbeziehungen. Ihr Mann Walter, der zuerst als Melker auf einem Gut in Schleswig und dann als Bergmann im Ruhrgebiet arbeitet, vergräbt seine schlimmen Kriegserfahrungen in Schweigen. Das andere Thema ist die Leidensweitergabe von einer Generation an die nächste. Das Leid wird weitergereicht, weil die Betroffenen unfähig sind aus ihren eigenen Gewalterfahrungen zu lernen. Weil sie mit dem Partner nicht über ihre Erfahrungen sprechen können, bleiben sie allein mit ihren Traumata.
Rothmann vermeidet beim Erzählen Psychologisierung und Deutung, sondern konzentriert sich auf präzise Darstellung. Er beschreibt detailliert und minutiös. Seine Sprache ist dicht und atmosphärisch. So schildert er etwa auf großartige Weise das allmähliche Verlöschen der Lebendigkeit Walters unter Tag in der Kohlengrube und er zeichnet hervorragend die Lebensrealität des Ruhrgebiets in der Zeit des deutschen Wirtschaftswunders. Ein wunderbares Buch, das man unbedingt lesen sollte.

Karl Vogd | biblio

Harald Jähner: Höhenrausch

: das kurze Leben zwischen den Kriegen / Harald Jähner.
- Berlin : Rowohlt, 2022. - 556 Seiten : Illustrationen
ISBN 978-3-7371-0081-6       Festeinband : EUR 28,80 (AT)

Dieses tolle Buch zeigt uns die Weimarer Republik in neuem Licht. (GE)

Über die Weimarer Republik gibt es eine Vielzahl an Publikationen. Trotzdem schafft es der deutsche Kulturjournalist Harald Jähner mit seinem Buch, den Leser*innen einen neuen Blick auf das scheinbar Bekannte zu ermöglichen. Das gelingt ihm, weil er sich auf einen anderen Aspekt dieser dramatischen 15 Jahre deutscher Geschichte konzentriert. Er hat sich vorgenommen, die Geschichte der Weimarer Republik anhand des Gefühlslebens der Menschen zu erzählen. Dazu gehört etwa die Wut der heimkehrenden deutschen Soldaten nach dem Ersten Weltkrieg angesichts der Niederlage und der als demütigend empfundenen Behandlung in der Heimat. Jähner veranschaulicht uns aber auch die emotionalen Traumata, die das Zusammenbrechen von Existenzen und Weltbildern von Millionen Menschen in der Hyperinflation des Jahres 1923 verursachten. Er schildert nicht nur die Auswirkungen politischer und wirtschaftlicher Entwicklungen, sondern geht auch auf kulturelle Veränderungen ein. Beispielsweise auf die durch das Bauhaus in die Wege geleitete Revolution in Architektur, Möbelbau und Design und auf die sozialen Veränderungen, die durch das gewaltige Heer eines neuen Typs von Arbeitnehmern, den Angestellten, in die Wege geleitet wurden. Hier fanden die Frauen erstmals massenhaft Möglichkeiten, berufliche Selbständigkeit zu entwickeln. Dazwischen eingestreut sind spannende Porträts von prägenden Persönlichkeiten der Weimarer Republik wie Friedrich Ebert, Gustav Stresemann und Reichspräsident Hindenburg.
Was Jähner hier bietet, ist eine Art Totalgeschichte der Weimarer Republik. Dass er an diesem monumentalen Vorhaben nicht scheitert, hat zwei Gründe. Erstens verfügt er durch seine jahrzehntelange Tätigkeit als Kulturberichterstatter über enormes Faktenwissen und ein umfassendes Verständnis der Epoche. Zweitens ist Jähner ein begnadeter Erzähler, der seine Erkenntnisse nicht bloß anschaulich und spannend zu schildern vermag. Er findet zudem immer wieder atemberaubend anschauliche sprachliche Bilder und Vergleiche. Es sind oft sprachliche Neuschöpfungen und innovative Metaphern, die er entwirft, um den Leser*innen das Gemeinte nahezubringen. Ein großartiges Buch, dessen Lektüre Wissen, Zusammenhänge und Erkenntnis auf genussvolle Weise vermittelt. Für jeden an Geschichte Interessierten fast eine Pflichtlektüre und absolut empfehlenswert!

Karl Vogd | biblio

Markus Teni: Einfach loslaufen

: mit Bewegung zu mehr Gesundheit und Wohlbefinden
/ Markus Teni. - Wien : Braumüller, 2022. - 283 Seiten
ISBN 978-3-9910034-8-9       Broschur : EUR 18,00 (AT)

Wie man ohne die neueste High-Tech-Ausrüstung und Bergen von Fachliteratur Freude am Laufen gewinnt und damit seine Lebensqualität steigert. (VS)

Schon wieder ein neues Laufbuch? Sind die Ratgeber-Ecken der Buchhandlungen nicht schon voll mit Büchern, die Anleitungen liefern, wie man aus trägen Übergewichtigen begeisterte Marathon-Junkies machen kann? Der Autor dieses Buches liefert einen etwas anderen Zugang zum Thema Laufen. Das hat auch mit seiner Biographie zu tun. Der fünffache Vater Markus Teni arbeitet als selbstständiger Bautechniker in der Steiermark und hat daher genauso wenig Zeit zum Laufen wie die Leser*innen, für die er dieses Buch geschrieben hat. Und genau darin liegt seine Stärke. Es unterscheidet sich wohltuend von Werken aus der Feder von Profisportler*innen oder Wissenschaftler*innen, die ihre Zeit zum Großteil dem Training oder den damit verbundenen medizinischen Hintergründen widmen. Im vorliegenden Buch geht es nicht um ausgeklügelte Trainingspläne, mit denen der nächste Marathon um ein paar Minuten schneller bewältigt werden kann, sondern es geht darum, die elementare Freude am Laufen all jenen zu erschließen, die »schon immer zu wenig Zeit dazu hatten«, die stark übergewichtig sind oder negative Erinnerungen an den Sportunterricht in der Schule haben. Markus Teni schreibt sehr anschaulich und verständlich, aber nie oberflächlich. Das Buch liefert ein buntes Kaleidoskop verschiedener Zugänge, es ist hervorragend recherchiert und bietet in einem umfangreichen Quellenverzeichnis viele weitere Möglichkeiten zur Information. Ein großartiges Buch!

Johannes Preßl | biblio

Navid Kermani:
Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen

: Fragen nach Gott / Navid Kermani.
- München : Carl Hanser, 2022. - 238 Seiten
ISBN 978-3-446-27144-9       Festeinband : EUR 22,70 (AT)

Ein deutsch-iranischer Vater versucht, seiner Tochter zeitgemäß den Islam zu erklären. (PR)

Navid Kermani, als Sohn einer aus dem Iran eingewanderten Familie in Deutschland geboren und aufgewachsen, ist Orientalist, Schriftsteller und Publizist. Er hat es sich zur Aufgabe gemacht, den letzten Wunsch seines Vaters zu erfüllen und erzählt seiner Tochter deshalb jeden Nachmittag, wenn sie von der Schule nach Hause kommt, vom Islam. Er vermittelt, was er selbst von seinen Eltern und Großeltern erfahren und gelernt hat.
Der Autor geht auf grundlegende Gotteserfahrungen, wie sie in allen Religionen zu finden sind, ein und erschließt dabei seiner zwölfjährigen Tochter, die auch am katholischen Religionsunterricht teilnimmt, den spezifischen Ansatz des Islams. Wichtig sind ihm der wohlwollende Blick auf die anderen Weltreligionen und das ernste Bemühen, auf die kritischen Fragen seiner Tochter einzugehen.
Ein Werk, das auch christlichen Leser*innen viel über die eigene Religion lehren wird und ganz neue Einblicke in den Islam bietet. Zudem besticht die poetische Sprache des Autors, der sich um zeitgemäße Formulierungen für sein junges Publikum bemüht.
Religiös interessierten Leser*innen sehr zu empfehlen und auch gut einsetzbar für Gemeindearbeit und Religionsunterricht!

Monika Roth | biblio

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