Buchtipps / 2016 / Februar
erstellt von der STUBE und dem Österreichischen Bibliothekswerk
Ulrich Hub: Ein Känguru wie du
/ Ulrich Hub. Mit Bildern von Jörg Mühle. – Hamburg : Carlsen, 2015. – 93 S. : Ill.
ISBN 978-3-551-55664-6 fest geb. : ca. € 13,40
Life-Ball am Rathausplatz, Regenbogenparade auf der Ringstraße, Conchita Wurst vor dem Bundeskanzleramt. Wien präsentiert sich regelmäßig als Stadt mit liberaler Einstellung zum Leben ihrer BewohnerInnen und BesucherInnen. Anfang des letzten Jahres sorgte jedoch ein renommiertes Kaffeehaus für den Reality-Check: Als zwei Frauen die Melange links liegen ließen, um sich zu küssen, mussten sie das Lokal verlassen. In Ulrich Hubs Buch „Ein Känguru wie du“ spricht eine der Hauptfiguren das aus, was sich die strengen Kaffeeherren und -damen wohl damals gedacht haben: „,So sind die alle! Die machen immer, wozu sie Lust haben! Gemeinsam hüpfen sie durch den Stadtpark und küssen sich sogar in aller Öffentlichkeit. Wenn sie es wenigstens geheim halten würden!‘“
Der Raubtiertrainer, von dem diese Aussage stammt, belässt es allerdings nicht bei diesen Worten und beschimpft das homosexuelle Känguru, um das sich diese Erzählung dreht. Er befürchtet den schlechten Einfluss, den das boxende Beuteltier auf seine noch kindliche Attraktion haben könnte. Dabei ist es dem weißen Tiger Pascha als auch dem schwarzen Panther Lucky ziemlich egal, wen ein Känguru liebt: „,Weibchen, Männchen, Ananas –‚ Ich zuckte die Achseln. ‚Es ist doch egal, was man lieber mag. Hauptsache, man mag überhaupt irgendwas‘“, hält Pascha fest, als er zum ersten Mal richtig über die unterschiedlichen Vorlieben der Menschen und Tiere nachdenkt. Denn bevor sie ihren neuen besten Freund mit Boxhandschuhen kennengelernt haben, beschränkte sich ihr ganzes Leben auf das Trio Trainer-Pascha-Lucky und auf die Reihenfolge von Kunststücken, die die LeserInnen schon am Einband entdecken können. Erst als sie zu einem großen Zirkusfestival reisen, das eine Prinzessin alljährlich in einem kleinen Fürstentum ausrichtet, bemerken die kleinen Raubkatzen, dass die Welt etwas komplexer ist, als sie sich das vorgestellt haben. Das Känguru Django erklärt ihnen schließlich, warum man als Tiger und Panther nicht einfach in eine Pizzeria oder an den Strand spazieren kann, warum ihre artistische Nummer einzigartig ist und warum das Schwulsein nicht – so wie sich das Pascha vorgestellt hat –, wie ein Schnupfen wieder vergeht: „,Moment, das hab ich mir nicht ausgesucht, sondern ich hab einfach Glück gehabt. [...] So bin ich eben geboren, ebenso wie ich Linkshänder bin.‘“
Unterstützt wird die leichtfüßige sowie humorvolle Erzählung von Jörg Mühles Illustrationen, die die Tiere in ihrer Emotionalität, Unsicherheit und Liebenswürdigkeit wiedergeben. Neben der Kunststückreihenfolge am Einband fügt der Illustrator Briefe und ganzseitige Bilder ein, die den Text ergänzen und für zahlreiche Identifikationsmöglichkeiten sorgen. Denn die sympathisch gezeichneten Raubtierkinder, die sich mit einer ansteckenden Leichtigkeit auf die neuen Situationen einlassen, zeigen in Bild und Text, dass es sich lohnt Fragen zu stellen und am Ende in der Manier Klaus Wowereits festhalten zu können: „Alles würde anders sein. Und das war gut so.“
Peter Rinnerthaler | STUBE
Barbara Schinko: Schneeflockensommer
/ Barbara Schinko. - Innsbruck : Tyrolia, 2015. - 156 S.
ISBN 978-3-7022-3484-3 fest geb. : ca. € 14,95
Doris Knecht hat in ihrem jüngsten Roman von einer Frau erzählt, die sich nach dem Scheitern ihres Lebensentwurfs in der Stadt unter einfachsten Verhältnissen am Land behaupten muss. Barbara Schinko widmet sich in ihrem ersten Buch bei Tyrolia nun einem ähnlichen Plot - doch für ihre vierzehnjährige Protagonistin Marie ist es nicht das wirtschaftliche Scheitern wie bei Doris Knecht, sondern eine nie ausgesprochene, auch im Text nie auserzählte Schuld, vor der sie versucht davonzulaufen. Hungrig und verwahrlost landet sie schließlich bei einer alten Frau, die im nahe gelegenen Dorf die Eisen-Berta genannt und als Hexe verschrien ist... Außerdem ist da auch noch Linus, der Sohn des Dorfwirten, der gemeinsam mit einem Rapunzel genannten Mädchen viel Zeit mit Marie verbringt und beharrlich für sie da ist, auch wenn sie sich ruppig und rätselhaft verhält. Barbara Schinko setzt in ihrer Darstellung einer Grenzsituation auf die archaische Kraft von Märchen, die sie ihre Figuren einander erzählen, variieren und kombinieren lässt. Und so steht am Ende dieses Sommers ein Aufbruch und die Hoffnung, dass für diese Marie das Leben mehr als Pech bereithält...
Kathrin Wexberg | STUBE
Patry Francis: Die Schatten von Race Point
: [Roman] / Patry Francis. Aus dem Amerikan. von Claudia Feldmann. - 2. Aufl. - Hamburg : mareverlag, 2015. - 591 S.
ISBN 978-3-86648-226-5 fest geb. : ca. € 20,60
Opulenter Liebes- und Familienroman mit Thrillerelementen. (DR)
Cape Cod in Massachusetts ist der Hauptschauplatz dieses mitreißenden, breit angelegten Romans. Die selbst an diesem Ort ansässige amerikanische Autorin Patry Francis versteht es hervorragend, die Stimmungen dieser Meergegend einzufangen und in die sich über Jahrzehnte erstreckende, dramatische Handlung einzuflechten.
Halbwaise Hallie Costa wächst in großer Geborgenheit bei ihrem Vater, einem beliebten Arzt, auf. Doch dann sorgt ein Mord für Aufregung in der portugiesischen Fischercommunity. Hallie nimmt sich um ihren Mitschüler Gus Silva, den Sohn der Getöteten, an. Jahre später scheint dieses traumatische Erlebnis vergessen, aus den beiden jungen Menschen ist ein Liebespaar geworden. Bei einer ausgelassenen Strandparty im Freundeskreis kommt es jedoch zu einem verhängnisvollen Zwischenfall, der ihre Lebenswege trennt. Diese kreuzen sich erst wieder, als Gus - inzwischen katholischer Priester - des Mordes an einer mysteriösen jungen Frau verdächtigt wird, die ihn aus Angst vor ihrem gewalttätigen Ehemann mehrfach aufgesucht hat. Trotz verräterischer Tatortspuren bleibt die Leiche der Frau verschwunden und Gus wandert nur aufgrund erdrückender Indizien ins Gefängnis. Kann Hallie Vergangenes vergessen und ihrem einstigen Geliebten in Freundschaft beistehen? Erst als die Tochter der Verschollenen Kontakt zu Hallie und Gus aufnimmt, kommt Licht in die Angelegenheit und eine unerhörte Wahrheit tritt zu Tage…
Liebe, Freundschaft, Glaube, Moral, Verrat, Schuld und Schicksal sind die großen Themen dieses versiert geschriebenen, aus sieben Teilen bestehenden 600-seitigen Romans. Ein unerwarteter Wechsel der Erzählperspektive und neue jugendliche ProtagonistInnen im fünften Teil bringen einen völlig anderen Erzählton und den mit Spannung erwarteten Twist in der Handlung mit sich. Ein Schmöker für Erwachsene und Jugendliche, der kurzweiligen Lesegenuss für viele Stunden garantiert. Empfehlenswert!
Elisabeth Zehetmayer | biblio
Ilija Trojanow: Macht und Widerstand
: Roman / Ilija Trojanow. - Frankfurt a. M. : S. Fischer, 2015. - 477 S.
ISBN 978-3-10-002463-3 fest geb. : ca. € 25,70
Zeitgeschichtliche Aufarbeitung des ideologischen Überlebenskampfes in Bulgarien. (DR)
Zwei Männer, Konstantin und Metodi, ein Widerstandskämpfer und ein karrieregeiler Machtmensch, sind die beiden Schlüsselfiguren dieses Romans, in dem versucht wird, die von Schrecken und Gewalt dominierte bulgarische Zeitgeschichte einzufangen, wie sie in den Archiven dokumentiert und stückweise freigegeben worden ist. Konstantin, der schon als Jugendlicher in die Fänge der Staatssicherheit gerät und ihr sein ganzes Leben lang nicht mehr entkommt, und Metodi, der skrupellose Offizier, dem es bei den Verhören und Folterungen nicht darum geht, Verbrechen aufzuklären, sondern nur um die Erhaltung der herrschenden Macht, sie erzählen jeweils abwechselnd als alte Männer von ihrem Leben. Im spannenden Duell zwischen Konstantins "zivilgesellschaftlichem Widerstand" und Metodis "autoritärer Machtgier" wird ein Stück bulgarischer Zeitgeschichte hautnah und schmerzhaft auf den Prüfstand gestellt, dessen Endergebnis mit dem moralischen wie körperlichen Überleben Konstantins einen versöhnlichen Abschluss findet.
Ein gewichtiges Werk, das die globalen Mechanismen von Macht und Unterdrückung freilegt und ihnen beispielhaft die unbeugsame menschliche Widerstandskraft entgegenstellt. In Zeiten von globalem Terror und Gewalt ein im wahrsten Sinn notwendiges Buch, das konkret zeigt, wie es einzelnen Individuen nicht nur in Bulgarien gelingen kann, über den permanenten "Sumpf der Lügen, Denunziationen und Manipulationen" zu triumphieren und dem erstrebenswerten Ideal einer demokratischen Zivilgesellschaft näherzukommen.
Jutta Kleedorfer | biblio
Irmgard Fuchs: Wir zerschneiden die Schwerkraft
: Erzählungen / Irmgard Fuchs. - Wien : Kremayr & Scheriau, 2015. - 206 S.
ISBN 978-3-218-00990-4 fest geb. : ca. € 19,90
Vom Versuch, einen Platz in dieser Welt zu finden. (DR)
In Irmgard Fuchs' Debüt folgen wir den inneren Monologen der Protagonistin, die ihre Alltagsbeobachtungen seziert und reflektiert. Da ist zum Beispiel die Erinnerung an das geliebte Kuscheltier aus Kindertagen, welches einem Maschinenwaschgang zum Opfer gefallen ist und anschließend entsorgt wurde. Der schmerzliche Verlust taucht nach Jahren auf, aus dem Nichts, als der Freund während einer Zirkusvorstellung spurlos verschwindet. Nähe und Distanz sind aus dem Gleichgewicht geraten. Die permanente Suche nach Liebe prägt den Alltag der Figuren, begleitet von skurrilen Ängsten: "Hannelore hat Angst vor einer Zuckervergiftung, von der sie nicht akzeptieren will, dass es sie nicht gibt".
Wir tauchen ein in scheinbar banale Gefühls- und Alltagsbeobachtungen, surfen in realen und fiktiven Welten. Der stellenweise melancholische Ton der Autorin wendet sich, klingt skurril bis humorvoll. Irmgard Fuchs zieht alle Register: Prall gefüllt ist die Vorratskammer an (Lebens-)Gefühlen, die sie beschreibt. Allen Figuren gemeinsam ist die Suche nach einem Ort, an dem Gefühle konserviert und gelebt werden dürfen. Und der Versuch, einen Platz zu finden in dieser Welt. Auch jugendlichen LeserInnen empfohlen!
Cornelia Stahl | biblio
Manfred Mittermayer: Thomas Bernhard
: eine Biografie / Manfred Mittermayer. - St. Pölten : Residenz-Verl., 2015. - 452 S., [16] Bl. : Ill.
ISBN 978-3-7017-3364-4 fest geb. : ca. € 28,00
Ein neues Standardwerk über den Skandalautor, der zum Klassiker wurde. (PL)
Thomas Bernhard war als Mensch und Autor voller Widersprüche. Freunde erzählen begeistert, wie amüsant er in Gesellschaft sein konnte. Andere berichten, dass er sich oft tagelang in seinem "Einsamkeitskerker", einem renovierten Bauernhof in Ohlsdorf, verbarrikadierte und niemanden an sich heranließ. Sein ambivalentes Verhältnis zu Österreich ist oft mit dem Begriff Hassliebe bezeichnet worden. Immer wieder kritisierte er den "katholisch-nationalsozialistischen Stumpfsinn" in seinem Heimatland, was ihm den Ruf eines Nestbeschmutzers eintrug. Sein letztes Drama "Heldenplatz", mit dessen Inszenierung der "Piefke" Claus Peymann im "Bedenkjahr" 1988 das österreichische Nationalheiligtum Burgtheater entweihte, erregte den größten Theaterskandal der Zweiten Republik. Trotzdem wurde Bernhard nach seinem Tod rasch als Klassiker kanonisiert. Selbst jene, die ihn zu Lebzeiten geschmäht hatten, begannen ihn nun beifällig zu zitieren, wenn es galt, Missstände anzuprangern.
Obwohl die monströsen Satzgebilde in seinen Prosawerken auf den ersten Blick abschreckend wirken, ist seine Lesergemeinde seit dem ersten Roman "Frost" stetig angewachsen. Gerade junge Menschen finden bei ihm ihre eigene Frustration und Unzufriedenheit wortmächtig ausgedrückt. Ein Gradmesser für seine Wirkung ist auch, dass eine ganze Reihe von schreibenden Epigonen den typischen Bernhard-Ton imitiert.
Der Salzburger Germanist und durch viele Publikationen ausgewiesene Bernhard-Experte Manfred Mittermayer hat nun eine monumentale, aber leicht lesbare Biografie vorgelegt, die den Erkenntnisstand zu Leben und Werk des umstrittenen Autors zusammenfasst und zum Standardwerk für Laien und Fachleute werden wird.
Renate Langer | biblio
Helga Maria Wolf: Verschwundene Bräuche
: das Buch der untergegangenen Rituale / Helga Maria Wolf. Mit Beitr. von Sepp Forcher. - Wien : Brandstätter, 2015. - 232 S. : zahlr. Ill. (z.T. farb.)
ISBN 978-3-85033-907-0 fest geb. : ca. € 34,90
Lexikon untergegangener Bräuche. (EH)
Bräuche und Rituale hatten in der Vergangenheit einen festen Platz im Leben und damit auch eine fest umrissene soziale Funktion. Wenn sich die Gesellschaft ändert, ändert sich auch das Brauchtum oder verschwindet ganz. Die verschwundenen Bräuche - die meisten, aber nicht alle, auf die hier eingegangen wird, stammen aus dem österreichisch-süddeutschen Raum - machen Vergangenes wieder lebendig. Um sie zu wissen, mag dazu beitragen, noch gegenwärtiges Brauchtum einzuordnen und manche Eigenheit einer Berufsgruppe, eines Menschenschlages, eines Landstriches usw. zu verstehen. Die eingestreuten Geschichten von Sepp Forcher, die sicher so manche LeserInnen aus eigenem Erleben nachempfinden können, fördern das Verständnis noch zusätzlich.
Was die bekannte Volkskundlerin Helga Maria Wolf erarbeitet hat, ist von großer Fachkompetenz. Wenn ein Lexikon aus dem Brandstätter-Verlag kommt, ist es darüber hinaus auch ein "einfach schönes" Buch, in dem man immer wieder gerne blättert. Dafür sorgt die liebevolle Gestaltung mit hunderten ausdrucksstarken Bildern. - Für alle Bibliotheken, besonders für Bestände mit Schwerpunkt Heimatkunde, Volkskunde, Ethnologie.
Hanns Sauter | biblio
Navid Kermani: Ungläubiges Staunen
: über das Christentum / Navid Kermani. - München : C.H. Beck, 2015. - 302 S. : Ill. (farb.)
ISBN 978-3-406-68337-4 fest geb. : ca. € 25,70
Christentum von außen betrachtet. (PR)
Kaum ein Buch nehme ich in letzter Zeit so oft zur Hand wie dieses. Als katholischem Theologen tut mir diese Außensicht des Muslimen Kermani auf das Christentum enorm gut. Sie erfrischt und belebt, sie weckt auf und regt an. Es überrascht zu lesen, mit wie viel sorgfältigem Interesse Kermani anhand ausgewählter Kunstwerke, die in dem Buch ganz- oder sogar doppelseitig abgebildet sind, über das Christentum spricht und wie tief er sich einfühlt in die Spiritualität der beschriebenen Werke. Er vollführt dies mit größter Achtung und unglaublich liebevoll, ja fast zärtlich.
Dieses Buch ist eine wunderbare Meditation der großen christlichen Inhalte in 40 kurzen Kapiteln. Themen wie Liebe, Tod, Gott, Gebet, Klage oder auch die Betrachtung einiger großer christlicher Heiliger verknüpfen sich miteinander zu einem literarischen Wegbegleiter durch die Welt des Christentums. Ich jedenfalls werde dieses Buch als Wegbegleiter für die kommende Fastenzeit einsetzen und jeden Tag ein Kapitel meditieren. - Sehr empfehlenswert.
Jonathan Werner | biblio