Buchtipps / 2008 / Mai
erstellt von der STUBE (Studien- und Beratungsstelle für Kinder und Jugendliteratur) und dem Österreichischen Bibliothekswerk
Chih-Yuan Chen: Gui-Gui, das kleine Entodil
/ Chih-Yuan Chen. Aus dem Chines. von Barbara Wang.
- Frankfurt/M.: Fischer Schatzinsel, 2008. – 40 S. : zahlr. Ill.
(farb.)
ISBN 978-3-596-85283-3 fest geb.: ca. € 13,30
Spitze Zähne, scharfe Krallen, blaugraue Haut: Eindeutig die Merkmale
eines Krokodils. Doch wohin führt einen das geerbte Aussehen, wenn
man als Ei durch Zufall in das Nest einer unbesorgten Entenmutter gekullert
ist? Aus einem Gemisch von Tinte, Bleistift und Aquarellfarben entstehen
die Bilder einer problemlosen Kindheit, die das Echsenfindelkind gemeinsam
mit seinen Geschwistern und seiner Mutter durchlebt. Denn „der Entenmutter
war es ganz gleich, wie ihre Küken aussahen. Sie hatte eins so lieb
wie das andere.“ Und so lernt Gui-Gui ganz selbstverständlich
das Schwimmen, Tauchen und den Entenwatschelgang. Doch als eines Tages
andere Krokodile auftauchen und von ihm den familiären Gehorsam einfordern,
wird Gui-Gui mit der Frage konfrontiert, als was er sich eigentlich fühlt:
Ente oder Krokodil?
Chih-Yuan Chen erzählt eine Geschichte von der Bejahung der Andersartigkeit
und der selbstverständlichen Integration des Fremden. Es geht nicht
darum, sich zwischen Ente und Krokodil zu entscheiden, sondern seinen
eigenen Weg zu finden. Dabei thematisiert er spielerisch und mit einem
ständigen Augenzwinkern die Frage nach Zugehörigkeit und Zusammenhalt,
bei der nicht das gleiche Aussehen, sondern die emotionale Verbundenheit
den Ausschlag gibt.
Und wenn das kleine Gui-Gui mit der entengelben Nase und den scharfen
Krallen hinter seiner Adoptivfamilie herwatschelt und verträumt seine
Spielzeugente spazieren führt, wird schnell klar: „Ich bin
gar kein Krokodil, aber ich bin auch keine Ente. Ich bin ein Entodil.“
Lukas Bärwald | STUBE
Kathleen Vereecken: Lara & Rebecca
: am anderen Ufer des Mississippi / Kathleen Vereecken.
Aus dem Niederländ. von Andrea Kluitmann. - Hamburg : Dressler, 2008.
- 189 S.
ISBN 978-3-7915-2104-6 fest geb. : ca. € 14,30
Lara und Rebecca wachsen im Louisiana des 19. Jahrhunderts zunächst wie Schwestern auf – und doch könnten ihre gesellschaftliche Positionen nicht unterschiedlicher sein: Während Lara die Tochter eines Zuckerrohrplantagenbesitzers ist, ist Rebecca ein Sklavenmädchen. Als zufällig herauskommt, dass Rebecca lesen gelernt hat, findet die gemeinsame Zeit ein jähes Ende, sie muss zurück zu ihrer Familie, der Kontakt zwischen den beiden wird fast unmöglich. Die belgische Autorin Kathleen Vereecken widersteht der Versuchung, die Freundschaft von Lara und Rebecca unrealistisch zu überhöhen, beide bleiben in den Strukturen verhaftet, in die sie hineingeboren wurden. Dennoch ermöglicht ihnen ihre verlorene Kinderfreundschaft, die Situation „der anderen“ ein bisschen besser zu verstehen. Abwechselnd aus der Perspektive der beiden jungen Frauen erzählt, wird in diesem Jugendroman ein heute wenig präsentes und doch wesentliches Stück amerikanischer Geschichte lebendig: Der Sezessionskrieg und seine Opfer, die Freude der SklavInnen über die neu gewonnene Freiheit und ihre Schwierigkeiten, sich nach einem Leben in Abhängigkeit und Unterdrückung zurecht zu finden. In einem Glossar werden Begriffe, die für das Verständnis der historischen Situation wichtig sind, erklärt. Ab 13 Jahren.
Kathrin Wexberg | STUBE
Martin Suter: Der letzte Weynfeldt
: Roman / Martin Suter. - Zürich : Diogenes,
2008. - 313 S.
ISBN 978-3-257-06630-2 fest geb. : ca. € 20,50
Der beschauliche Alltag eines distinguierten Kunstexperten gerät unvermutet aus den Fugen. Ein Blick hinter die Kulissen internationaler Gemäldeauktionen. (DR)
Das Universum, in dem Adrian Weinfeldt, renommierter und gesettelter
Kunstauktionator lebt, ist überschaubar, wohlgeordnet und vor allem
wohltemperiert. Jeden Tag ein frischer Pyjama mit Monogramm, seit Lichtjahren
keine Frau in seinem Leben, eine durchgestylte Stadtwohnung, mehr Kunstmuseum
als Wohnhöhle. Weynfeldt wahrt distinguierte Distanz, lebt ein gediegen
luxuriöses, nach ganz bestimmten Gesetzmäßigkeiten funktionierendes
Leben eines Gentlemans alter Schule. Das urknallartige Auftauchen einer
quirligen Rothaarigen bringt Weynfeldt ins Grübeln und Schwärmen.
Er verhindert zunächst den Todessprung seiner Zufallsbekanntschaft
vom Balkon - und avanciert in Folge zum Beschützer der geheimnisvollen,
mit etlichen Wässerchen gewaschenen, kleinen Lady.
Suter beschreibt Weynfeldt als liebenswerten Exzentriker, der sich mit
seiner Einsamkeit arrangiert hat. Naiv und vertrauensselig umgibt er sich
mit einer Schar von "Freunden", die seine Vermögensverhältnisse
und seine Netzwerke nur zu gerne nutzen. Die Wandlung Weinfeldts vom einsamen
Wolfs zu einem das Leben umarmenden Mann ist köstlich - wird aber
nie überzeichnet dargestellt. Weynfeldt öffnet sich zusehends
seinen Sehnsüchten, wird verletzlicher, offener und für seine
Verhältnisse geradezu kühn. Wie sonst ließe sich erklären,
dass der kühle Adrian sich plötzlich mit Erpressern und Kunstfälschern
abgibt und sich mit Euphorie und Verve in den chaotischen Sog eines neuen
spannenden Lebens ziehen lässt. Selten wurden die Marotten eines
in die Jahre gekommenen Junggesellen charmanter beschrieben. Einmal mehr
ein Gustostückerl des Routiniers Suter.
Barbara Rieder | biblio
Rainer Juriatti: 47 Minuten und 11 Sekunden im Leben der Marie Bender
: Roman / Rainer Juriatti. - Salzburg : O. Müller,
2008. - 154 S.
ISBN 978-3-7013-1140-8 fest geb. : ca. € 17,00
Die letzten Augenblicke im Leben der jungen Suchtkranken Marie Bender. (DR)
Wie der Titel schon verrät, sind es 47 Minuten und 11 Sekunden im
Leben der Marie Bender, die wir in Echtzeit miterleben. Momente, in denen
der jungen Frau ihr Leben entgleitet - zu stark ist der Sog, den die Drogensucht
bereits auf sie ausübt. In ihrem Delirium immer wieder Gedanken an
Leo, ihren kleinen Sohn, für den sie doch sorgen, für den sie
da sein möchte. Marie schafft den Sprung zum selbstbestimmten Leben
nicht, unaufhaltsam treibt das Geschehen auf das Unfassbare, auf Maries
trauriges Ende zu, die Sucht behält die Oberhand, zeigt ihre brutalen
Folgen. Am Ende bleibt beim Leser Verstörung, Trauer über den
fehlenden Ausweg, die ausgebliebene Rettung.
Rainer Juriatti hat viele Jahre in der Suchthilfe gearbeitet, er weiß,
wie mit einer solchen Thematik umzugehen ist und trifft den richtigen
Tonfall. Es ist eine knappe, schonungslose Prosa ohne Schnörkel,
die die Tragik des Erzählten umso deutlicher macht und beim Lesen
eine Sogwirkung erzeugt. Juriatti rekonstruiert Maries Weg in die Abhängigkeit
und greift dabei verschiedene Stilmittel auf: Wir lesen die Briefe der
hilflosen Eltern, verfolgen die zahlreichen Gespräche mit dem Sozialarbeiter,
an die sich die Familie erinnert - dazwischen immer wieder Echtzeitausschnitte
aus Maries Leben, hautnah. Der Leser wird hier in keinster Weise geschont.
Nach dem Bruch mit den Eltern folgt der Rausschmiss aus der Schule und
der betreuten Wohngemeinschaft. Viel zu früh endet Maries Kindheit,
sie rutscht in die Drogenszene hinein, dealt, prostituiert sich. Muss
miterleben, wie ihr das Sorgerecht für ihren Sohn - sie war mit 16
schwanger geworden - entzogen wird.
Es kommt dem Buch zugute, dass der Vorarlberger Autor Erfahrung aus der
Filmbranche mitbringt: Rasche Schnitte, kurze, bildhafte Sequenzen, Wechsel
der Erzählperspektive und Rückblenden sorgen für ein rasantes
Tempo und sprechen vor allem ein junges Lesepublikum an. Juriatti hat
ein Buch geschrieben, dass sich einem nach wie vor wichtigem, mitunter
tabuisiertem Thema annimmt und in seiner Realitätsnähe überzeugt.
Allen Bibliotheken zu empfehlen, vor allem junge LeserInnen ab 16 werden
von der Lektüre in den Bann gezogen werden und zugleich zutiefst
betroffen sein.
Cornelia Gstöttinger | biblio
Sherko Fatah: Das dunkle Schiff
: Roman / Sherko Fatah. - Salzburg : Jung und Jung,
2008. - 440 S.
ISBN 978-3-902497-36-9 fest geb. : ca. € 22,00
"Im Grenzland" hieß das erste bei Jung
und Jung 2001 erschienene Buch von Sherko Fatah und ins Grenzland von
Irak und Iran führt auch dieser neue Roman um den jungen Kerim. Zwischen
sichtbaren und unsichtbaren Grenzen spannt sich sein Leben in der kleinen
Gaststätte seines Vaters, als Aleviten bewegt sich die Familie an
den religiös-gesellschaftlichen Grenzen und über dem Alltag
schwebt eine bedrohlich-gesichtslose Staatsmacht. Im Gefolge des Golfkrieges
verändert sich das Leben, die Beengungen und Bedrohungen wachsen.
Als Kerim sich zu weit in unsicheres Gelände vorwagt, wird er von
Gotteskriegern entführt, der Einstieg in ihr Leben und Denken bewahrt
ihn vor dem Tod. Die Verwirrung bei einer Gefechtssituation ermöglicht
ihm schließlich die Flucht, die ihn auf abenteuerlichem Weg zu Verwandten
nach Berlin und in befremdliche Grenzgebiete ganz neuer Art führt.
Wenn sich in Hollywood der Schrecken nähert, dann spiegelt er sich
bereits vorab in den Gesichtern und kündet im Soundtrack sein Erscheinen.
Ganz anders die Stilmittel von Fatah - er ersetzt diese deutende Inszenierungstechnik
durch ein konzentriert-ruhiges und geradezu klassisches Erzählen,
das gänzlich auf psychologische Deutungs- und politische Erklärungsmuster
verzichtet. In präziser Klarheit werden die Natur, Lebensvollzüge
und Figuren beschrieben. Nähe und Fremdheit gegenüber den Personen
halten sich stets die Waage. Zwangsläufig vollzieht sich die ausgesparte
Deutung im Kopf des Lesers. - Ein bemerkenswerter Text, der die Kraft
in sich trägt, die uns umgebende Welt mit verändertem Blick
zu sehen.
Reinhard Ehgartner | biblio
Ilija Trojanow: Der entfesselte Globus
: Reportagen / Ilija Trojanow. - München : Hanser,
2008. - 194 S.
ISBN 978-3-446-23030-9 fest geb. : ca. € 18,40
Kritischer Streifzug durch die Kontinente. (EL)
Längstens seit seinem vielbeachteten Auftritt bei den Rauriser Literaturtagen
ist Ilja Trojanow einer größeren Anzahl von LeserInnen ein
Begriff. "Der entfesselte Globus" ist eine Sammlung von Essays
und Reisenotizen aus Afrika, Indien, Asien und seinem Geburtsland Bulgarien.
Im Zentrum seiner Betrachtungen stehen die Menschen und Gemeinschaften,
in die sie eingebunden sind. Unvoreingenommen nimmt er Eindrücke
auf, stellt diese sprachgewandt in kulturelle und politische Zusammenhänge
und zeichnet für uns - immer mit Emphatie, manchmal mit Zorn, aber
stets ohne Polemik - ein buntes und vielschichtiges Bild dieses Planeten.
Wenn Trojanow über Bigotterie, Kulturverlust, Fanatismus und menschenverachtende
Regime reflektiert, dann beschränkt er sich nicht auf die Beschreibung
landesspezifischer Lebenssituationen, sondern bezieht die weltumspannenden
politischen, wirtschaftlichen und religiösen Strömungen mit
ein. Globalisierung live, aber ohne CNN und Al-Dschasira.
Ein spannendes Buch für alle, die in Gedanken einmal nach Kampala
(Uganda), auf die Donauinsel Persin in Bulgarien, nach Bombay oder an
einen der anderen, manchmal unbekannten, aber nicht minder faszinierenden
Schauplätze der Geschichte(n) reisen wollen.
Gerhard Huber | biblio
Julia Friedrichs: Gestatten: Elite
: auf den Spuren der Mächtigen von morgen / Julia
Friedrichs. - 2. Aufl. - Hamburg : Hoffmann und Campe, 2008. - 255 S.
ISBN 978-3-455-50051-6 fest geb. : ca. € 18,50
Eine Expedition in die Parallelwelt der neuen Eliten. (GS)
Die deutsche Journalistin Julia Friedrichs hat ein faszinierendes Buch
über die Bildung von Eliten geschrieben. Die 28-Jährige bewarb
sich als Beraterin bei McKinsey. Sie bestand das Bewerbungsverfahren erfolgreich
und erhielt am Ende ein Job-Angebot mit einem Einstiegsgehalt von 67.000
Euro, das sie nach langem Überlegen ausschlug. Stattdessen schaute
sie sich in den "Business Schools" und Elitegymnasien Deutschlands
um. Dort erhält man für viel Geld eine durchschnittlich-solide
Ausbildung. Viel wichtiger sind aber die hervorragenden Kontakte und der
Zugang zu exklusiven Netzwerken, die mit dem Schulgeld auch erkauft werden.
Die Autorin besuchte zudem eine deutsche Filiale der amerikanischen Bildungskette
"Fast Trac Kids" und sie zeigt auf, was Eltern Dreijährigen
zumuten, damit sie später nicht zu Verlierern werden. Auf dem Stundenplan
dieser Vorschulkinder stehen Mathematik, Biologie und Astronomie.
Immer wieder stellt sich die Autorin bei ihren Recherchen die Frage: "Wie
definiert jemand Elite?" Am Ende ihrer Erkundungsfahrt ist sie sich
sicher, dass der Begriff Elite untauglich ist. Sie meint, dass das, was
damit verkauft wird, gefährlich ist: "Ich habe gesehen, dass
Elite heißen kann, dass schon die Kleinsten in Geförderte und
Ungeförderte geteilt werden, dass wenige Auserwählte besser
behandelt werden als der große Rest und dass die Regeln für
diese Auswahl oft ziemlich undurchsichtig sind." Dieses Buch veranschaulicht
hervorragend, wie problematisch das Elite-Konzept ist. Es ist ausgezeichnet
recherchiert. Und es ist aufgrund seiner sprachlichen Brillanz ein Glanzstück
der Reportageliteratur.
Karl Vogd | biblio
Mike Beaumont: Bibelwissen kompakt
: Geschichte - Personen – Lebenswelten / Mike
Beaumont. Bearb. von Bettina Wellmann. - Stuttgart : Kath. Bibelwerk,
2007. - 128 S. : Ill.
ISBN 978-3-460-30218-1 fest geb. : ca. € 20,60
Eine übersichtliche und verständlich geschriebene Einführung in die Welt der Bibel. (PR)
Das vom Katholischen Bibelwerk Stuttgart herausgegebene Sachbuch will - so der Autor Mike Beaumont - den LeserInnen helfen, die gesamte Bibel in ihren großen Themen zu verstehen, und wendet sich sowohl an Nichtchristen, die einen ersten Zugang zur Bibel finden, als auch an Christen, die ihre Heilige Schrift besser kennenlernen wollen. Aus diesem Grund verzichtet Beaumont, selbst Bibelwissenschaftler in Oxford, bewusst auf seine Spezialistensprache. Beginnend mit Adam und Eva im Buch Genesis bis zur Offenbarung des Johannes versucht er in 58 Themenbereichen auf je einer Doppelseite, die zentralen Inhalte des Alten und Neuen Testaments herauszuarbeiten - und folgt dabei einem fixen Schema: Zentral ist jeweils eine kurze Einleitung in das entsprechende biblische Buch mit einer Erklärung seiner Kernaussagen und der Formulierung eines "Schlüsselbegriffs" sowie die Vorstellung der wichtigsten handelnden Personen. Zahlreiche gut gewählte Karten, Skizzen und Bilder ergänzen den informativen und gut verständlichen Text. - Insgesamt eine übersichtlich und ansprechend gestaltete Einführung in die faszinierende Welt der Bibel.
Karl Krendl | biblio