Buchtipps / 2008 / Jänner
erstellt von der STUBE (Studien- und Beratungsstelle für Kinder und Jugendliteratur) und dem Österreichischen Bibliothekswerk
Stürmer, Karoline: Pole, Packeis, Pinguin
Leben im ewigen Eis / Karoline Stürmer. Ill.
von Doris Katharina Künster - München : dtv, 2007. - 299 S.
: Ill. + Farb- u. Schwarzweißabbild. - (Reihe Hanser; 62322) ISBN
978-3-423-62322-3 kart. : ca. € 15,40
Dr. Volker Siegel vom Institut für Seefischerei
der Bundesforschungsanstalt für Fischerei in Hamburg ist Krillforscher.
Er untersucht dessen Vorkommen und Entwicklung, die Beeinflussung durch
den Klimawandel und die möglichen Auswirkungen auf das Ökosystem
der Polarregionen. Krill? Auch als Euphausia superba bekannt, ein Krebs,
der maximal sechs Zentimeter lang wird und wohl das tragischste Schicksal
aller Meeresbewohner hat, ist er doch das meistgefressene Tier der Ozeane.
Ihre große Bedeutung erlangen die fast durchsichtigen Tiere durch
ihre Funktion als „wichtigste Nahrungsquelle von Walen, Pinguinen
und Robben“. Allein 65 bis 300 Millionen Tonnen Krill schwimmen
im Eiswasser der Antarktis und bringen damit mehr Biomasse als fast alle
anderen Lebewesen auf die Waage.
Dieser Ausschnitt aus einem Kapitel des zum Internationalen Polarjahr
erschienenen Sachbuchs verdeutlicht das Gesamtkonzept von „Pole
Packeis Pinguine“: In den drei Hauptkapiteln werden Flora und Fauna
sowie die Forschung im ewigen Eis anhand von zahlreichen Sachinformationen,
Interviews, Fotografien und Illustrationen in ihrer Wechselwirkung zueinander
vorgestellt. Dadurch entsteht ein anspruchsvoller, umfassender Blick auf
das Ökosystem von Arktis und Antarktis sowie seiner Auswirkung auf
globale Zustände. Die einzelnen, thematisch gegliederten Kapitel
werden in übersichtlichen Infokästen durch kurze Exkurse zu
vertiefenden Spezialthemen erweitert. Mit der Unterstützung des Alfred-Wegener-Instituts
für Polar- und Meeresforschung entstand ein Sachbuch, das sich in
seiner ansprechenden Gestaltung speziell an interessierte Jugendliche
richtet. Ab 12 Jahren.
Das große Lesebuch der Weltliteratur
: Texte von den Anfängen bis zur Moderne / ausgesucht
und zusammengestellt von Manfred Mai. Mit Ill. von Stefanie Harjes. -
Ravensburg : Ravensburger Buchverl., 2007. - 322 S. : Ill. (farb.) ISBN
978-3-473-35273-9 fest geb. : ca. € 20,60
Leicht ist es nicht, anzukämpfen gegen umfassende
individuelle Lektüre-Erfahrungen, gegen persönliche Vorlieben
und kanonisch geschultes Wissen um „die“ Weltliteratur. Wer
will einem da mit Text-Schnipseln kommen? Ebenso wenig leicht ist es,
anzukämpfen gegen die Bilder im Kopf, gegen legendäre Filmversionen
und erfolgreich bebilderte Klassiker-Editionen. Kann Kapitän Ahab
je ein anderes Antlitz haben als jenes von Gregory Peck? Ist Roberto Innocentis
Pinocchio-Version je zu übertreffen?
Die hier getroffene „Vorauswahl“ jedenfalls scheint den LeserInnen
sehr entgegen zu kommen. Bereits mit dem „Literatur Lesebuch“
(erschienen 2005) haben Manfred Mai und Stefanie Harjes es ermög-licht,
sich auf der wilden See deutschsprachiger Literatur vom Minnesang bis
zu Karin Duve schiffen zu lassen. Nun entsteigen dem Holzpferd am Cover
illustre Figuren wie Graf Dracula. Am Rücken des Pferdes räkelt
sich genussvoll Bagheera der Panther, flankiert von Don Quijote und einem
nackten Kaiser. Von Homer bis Marcel Proust schlägt Manfred Mai den
Bogen, wenn er ansetzt, das Holzpferd über die Schienen der Weltliteratur
zu ziehen.
Der wilde Ritt durch Lyrik und Romane aus dem europäischen und amerikanischen
Raun zeigt sich dabei ganz und gar nicht als Illusion, bei der Kinderzimmer
und Schaukelpferd in Wahrheit erst gar nicht verlassen wurden. Dieses
Bild hingegen greift Stefanie Harjes auf, wenn sie den Ritter von der
traurigen Gestalt ein wenig verzagt auf seine Rosinante setzt. Die Hamburger
Illustratorin spielt einmal mehr ihr Talent aus, Figuren aus ihrem literaturhistorischen
Kontext zu lösen und ganz neu zu befragen.
Stefanie Harjes nimmt Texte beim Wort, ironisiert, verknappt und inszeniert
Kontexte auf spielerische Art neu. Ausgestattet mit modischer Raffinesse
werden die Figuren mit ihrem eigenen Erstaunen konfrontiert – ganz
der Textauswahl entsprechend, die sich an den existentiellen Bruchlinien
literarischer Lebensdarstellungen orientiert. Und einmal mehr bleibt zu
bedauern, dass der illustrierte Roman heute nicht mehr zu verlegerischen
Denkkategorien zählt. - Nachdrücklich empfohlen.
Köhlmeier, Michael: Abendland
: Roman / Michael Köhlmeier. - München :
Hanser, 2007. - 775 S.
ISBN 978-3-446-20913-8 fest geb. : ca. € 25,60
Vielleicht ist der Titel doch etwas zu großspurig,
aber ein "Epochenroman" ist "Abendland" auf jeden
Fall. In der Rahmenhandlung erzählt der 95-jährige, sterbenskranke
Mathematiker und Jazzfan Professor Candoris seinem Patenkind, dem 50-jährigen
Schriftsteller Sebastian Lukasser seine Lebensgeschichte. Damit spannt
Köhlmeier einen historischen Bogen von der Habsburgermonarchie bis
in die Gegenwart. Die politischen Ereignisse vom Ersten bis zum Zweiten
Weltkrieg, über die Nürnberger Prozesse bis zum deutschen Herbst
stehen immer im Zusammenhang mit den privaten Lebensverläufen der
Protagonisten. Damit verbunden ist auch eine Vielzahl an Handlungsschauplätzen:
Innsbruck, Wien, New York, Lissabon, um nur einige zu nennen.
Wirklich prallvoll mit ineinander geschachtelten Geschichten ist der Roman.
Candoris ist nicht nur Pate, sondern auch guter Geist der Familie Lukasser.
Sebastians Vater war ein begnadeter und renommierter Jazzmusiker, allerdings
auch Alkoholiker, der seinem Leben selbst ein Ende setzte. Seine Mutter
trat später in den Orden ein, in dem auch Edith Stein einst war.
Diese wiederum hat Candoris als Kind bei seinen Tanten kennen gelernt.
Wenn Sebastians Eltern Schwierigkeiten hatten, sprang Candoris, der selbst
eine nicht ganz unkomplizierte Ehe mit einer Portugiesin führte,
helfend ein. Für Sebastian war er auch so etwas wie sein Wahlvater.
Zum Zeitpunkt, als er Candoris' Lebensgeschichte aufschreiben soll, ist
er bereits ein bekannter Autor, allerdings von seiner Frau und seinem
Sohn seit langem getrennt und auch gesundheitlich stark angeschlagen.
In dieser Situation lernt er endlich seinen erwachsenen Sohn kennen und
kommt so wieder in Kontakt mit seiner Ex-Frau.
Vatersuche und versagende Väter sind zentrale Themen, daneben aber
geht es auch um außergewöhnliche Frauengestalten, exzentrische
Wissenschafter und die Musik. Vielleicht ein bisschen zu viel, manchmal
auch sehr behäbig erzählt, mit einer Unzahl an Namen und Daten
- trotzdem: ein äußerst lesenswertes Buch mit sehr viel Sympathie
für seine - auch immer wieder versagenden - ProtagonistInnen.
Ferraris, Zoë: Die letzte Sure
: Roman / Zoë Ferraris. Aus dem Engl. von Matthias
Müller. - München : Pendo, 2007. - 399 S. ISBN 978-3-86612-129-4
fest geb. : ca. € 18,50
Nouf ash-Shrawi wird in einem Wadi in der Umgebung von
Dschidda tot aufgefunden. Die Gerichtsmedizin fällt auf Druck der
Familie die Entscheidung: Tod durch Ertrinken, eine nicht weiter ungewöhnliche
Diagnose, denn es gab zum Zeitpunkt des Todes schwere Regenfälle
in der Region. Der Bruder der Verunglückten aber möchte als
Einziger in der Familie die Ungereimtheiten erforschen, die für ihn
offen zutage liegen, und so bittet er einerseits seinen besten Freund,
den wüstenerfahrenen Nayir, und andererseits seine Verlobte Nadya,
die im Gerichtslabor arbeitet, um weitere Recherchen. In Saudi-Arabien
ist das besonders für Nadya nicht einfach, da sie als Frau ohne Begleiter
nirgendwo hingehen kann und auch eine Kontaktaufnahme von Nayirs Seite
aus den Anstand verletzen würde. Glückliche Umstände ermöglichen
den beiden die Zusammenarbeit und so können sie Stück für
Stück Noufs letzte Lebensmonate rekonstruieren.
Die Autorin hat selber ein Jahr lang als Gattin eines Saudis in Dschidda
gelebt, bringt die saudische Kultur und Lebensart sehr eindringlich zum
Ausdruck und kann viele ihrer Erfahrungen in den Roman einfließen
lassen. Besonders die für uns völlig fremden Anstandsregeln
klingen aus ihrer Feder nicht so absonderlich wie gewöhnlich. Die
Spannung wird unaufhaltsam aufgebaut in diesem Psychokrimi, dessen Handlung
niemals brutal wird - im Gegenteil, alle Protagonisten legen stets eine
besondere Rücksichtnahme an den Tag. - Sehr zu empfehlen für
alle LeserInnen, die an fremden Kulturen interessiert sind.
Wagner, Jan C.: Das Schweigen
: Roman / Jan Costin Wagner. - Frankfurt a. M. : Eichborn,
2007. - 283 S. - (Eichborn Berlin) ISBN 978-3-8218-0757-7 fest geb. :
ca. € 20,60
Seit seinem Debütwerk "Nachtfahrt" im
Jahre 2001, das zum Krimi des Jahres gewählt wurde, ist der 1972
in Langen (Hessen) geborene Jan Costin Wagner ein Garant für spannende
Krimiunterhaltung auf höchstem literarischen Niveau. Mit "Eismond"
(2003) begann er die in Finnland spielende Krimiserie rund um den Kriminalbeamten
Kimmo Joentaa und dessen Vorgesetzten Ketola. In seinem neuen Roman "Das
Schweigen" wird ein aktuelles Verbrechen mit einem mehr als dreißig
Jahre zurückliegenden Kriminalfall, der nie aufgeklärt werden
konnte, geschickt verbunden. Kurz nach Ketolas Pensionierung verschwindet
ein junges Mädchen just an jener Stelle, an welcher zu Ketolas Amtsantritt
ein Teenager überfallen, vergewaltigt und ermordet wurde. Die Täter
konnten allerdings nie ausgeforscht werden. Durch eigennützige und
unautorisierte Aktionen riskiert Ketola einerseits die Aufklärung
des aktuellen Falls und bringt den ehemaligen Kollegen Joentaa in so manch
schwierige Situation, lockt aber gleichzeitig geschickt die einstigen
Täter aus der Reserve. Mehr soll über die weitere Handlung nicht
erzählt werden, um die Spannung und Neugierde beim Leser nicht abzuschwächen.
Letztendlich wird der Kriminalfall rasant und fast abrupt aufgeklärt,
ohne allerdings den Haupttäter zu überführen.
Neben der großartig angelegten Story, die eine Zeitspanne von über
dreißig Jahren umfasst, fasziniert Wagners Krimi durch die differenzierte
und nuancierte Zeichnung der handelnden Personen. Vermeintliche Familienidyllen
zerbrechen und entpuppen sich als künstlich konstruierte Farce, Polizeiermittler
kämpfen mit privatem Unglück und die Gerechtigkeit siegt am
Ende nur teilweise. Mit großer Spannung darf man auf eine Fortsetzung
dieser im hohen Norden spielenden und gelegentlich an Dürrenmatt
erinnernden Krimiserie hoffen, die mit nüchterner Sprache auf drastische
Weise die ganze Bandbreite des menschlichen Lebens und die Fehler und
Verbrechen unserer Gesellschaft aufdeckt.
Fischer, Erica: Himmelstraße
: Geschichte meiner Familie / Erica Fischer. - Berlin : Rowohlt Berlin, 2007. - 250 S. ISBN 978-3-87134-584-5 fest geb. : ca. € 20,50
Erica Fischer hat sich mit ihrem Roman "Aimée
und Jaguar" bereits vor vielen Jahren ihren Platz als engagierte,
mutige, Tabuthemen aufgreifende Autorin gesichert. Obwohl, gesichert ist
ein viel zu banales Wort für diese Autorin, die ihre LeserInnen nun
schonungslos in ihren Fotoalben blättern lässt. Sie ist eine
Überlebende des Holocaust der zweiten Generation, sie schreibt ein
Stück österreichische Geschichte, wenn sie vom Karl-Marx-Hof
erzählt, von der Flucht ihrer Eltern nach England, von der Rückkehr
nach Wien. Wo sind die ehemaligen Nazis nur schnell hingekommen, hingekrochen,
wie schnell wurde umgefärbt, Recht verdreht? Das Private ist bei
Erica Fischer stets politisch: Der Selbstmord des Bruders knapp nach dem
Tod der Mutter setzt der Spurensuche der Schwester nur scheinbar ein Ende.
Auswandern, Heimkehren und doch nie in einem Daheim, einer Heimat ankommen,
so klingen die Sätze in dieser akribischen Selbstbefragung dieser
hochbegabten, analytischen Schriftstellerin. Ein Buch, das man mehr als
einmal lesen will, das die Fülle an Frauengeschichte, Mutter-Tochter-Geschichte,
Holocaust-Geschichte... manchmal unerträglich klar verdichtet. Sehr
zu empfehlen, vor allem auch für Literaturkreise.
Manguel, Alberto: Die Bibliothek bei Nacht
/ Alberto Manguel. Aus dem Engl. von Manfred Allié
und Gabriele Kempf-Allié. - Frankfurt a. M. : S. Fischer, 2007.
- 400 S. : Ill. ISBN 978-3-10-048750-6 fest geb. : ca. € 20,50
"Die Nacht ist die Zeit des Lesens, in der ich spüre,
wie die Reihen von Büchern mich verleiten, immer neue Beziehungen
zwischen benachbarten Bänden herzustellen, ihnen eine gemeinsame
Geschichte zu geben, einen Erinnerungsschnipsel mit einem anderen zu verknüpfen."
(S. 27)
Alberto Manguel, dem wir neben einer „Geschichte des Lesens“
auch hervorragende Bücher über Jorge Luis Borges verdanken,
hat hier wie mit seinem „Tagebuch eines Lesers“ ein sehr privates
Buch vorgelegt. Als Ausgangspunkt all seiner Überlegungen dient ihm
seine eigene Bibliothek, die nachts ihren Charakter ändert: "Die
Ordnung der Bibliothekskataloge ist in der Nacht nur Konvention."
(S. 23) Und so nimmt uns Alberto Manguel mit hinein in seine Leidenschaft,
die sich über die Ordnungen des Tages hinwegsetzt und nächtens
hineintritt in das mannigfaltige Universum der Sprache und des Denkens
und dort seine Fäden über Zeiten, Kontinente und Kulturen spannt.
Wer wie Manguel sein Kulturverständnis so über Zeiten und Räume
hinweg entwirft, braucht eine Ordnung anderer Art, und so sind es grundlegende
Wesensbegriffe, an denen er seine Gedanken, Beobachtungen und Schlussfolgerungen
zusammenführt: In 15 Kapiteln beschreibt er die Bibliothek als Mythos,
als Ordnung, als Raum, als Insel, als Phantasie etc., um sie abschließend
als das Zuhause zu ehren. Hier öffnet sich ein Liebhaber, der fasziniert
dem Geist von Büchern und Bibliotheken nachspürt und aus diesem
Geist heraus sein Leben und Arbeiten gegründet hat. - Ein anregender
Band, der gerade auch BibliothekarInnen aus der Seele sprechen wird.
Keul, Hildegund: Mechthild von Magdeburg
: Poetin - Begine - Mystikerin / Hildegund Keul. -
Freiburg i. Br. : Herder, 2007. - 191 S. : Ill. ISBN 978-3-451-29355-9
fest geb. : ca. € 17,40
Mechthild von Magdeburg (*1207) ist eine in mehrerer
Hinsicht ungewöhnliche Frau. Aus der Geborgenheit der Familie und
der heimatlichen Burg bricht sie aus, um als Begine in der aufstrebenden
mittelalterlichen Großstadt Magdeburg ein Leben im Dienst der Armen
zu führen. Konfrontiert mit den Missständen der damaligen Kirche
und dem sozialen Elend der Zeit, fragt sie unablässig nach Gott und
wird von ihm ganz persönlich ergriffen. Ihr Alter verbringt sie im
Frauenkloster Helfta und wir dort zur geistlichen Lehrerin, die weit über
ihre Zeit hinaus von Bedeutung bleibt.
Einfühlsam und spannend zeichnet die Verfasserin den Weg Mechthilds
nach, so dass der Leser begreift, welches Aufsehen Mechthilds Buch "Das
fließende Licht der Gottheit" in einer Zeit erregt haben muss,
die Frauen weder Bildung noch Selbständigkeit zugestanden hat, und
welches Unverständnis und Feindseligkeiten ihr deswegen entgegengebracht
wurden. Ein Buch, das das Bild der mittelalterlichen Frau um wesentliche
Seiten erweitert und ein Kapitel mittelalterlicher Spiritualität
erschließt, das weithin unbekannt, daher umso spannender und bereichernder
ist. Für einen breiten, interessierten Leserkreis.