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Buchtipps / 2007 / Februar

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Joyce Carol Oates: Sexy

/ Joyce Carol Oates. Aus dem Amerikan. von Birgitt Kollmann. - München : Hanser, 2006. - 208 S. ISBN 978-3-446-20792-9 / 3-446-20792-9 kart. : ca. € 15,40

Ein sprachlich dichter Roman über einen Jugendlichen, der an seiner Rolle als Objekt der Begierde zu scheitern droht.

"An dieser Stelle hätte es enden können." Doch selten enden die Romane der arrivierten amerikanischen Autorin dort, wo man ein Ende erhofft. Darren Flynn mag es geschafft haben, sich seinen Lehrer aus den Augen, vielleicht sogar aus dem Sinn zu schaffen - doch er hat die Rechnung ohne die Sensationslust seiner Umwelt gemacht. "Es ist überhaupt nichts passiert." Tagelang hat Darren diesen Satz wie ein Mantra wiederholt, denn: Es war nicht mehr als eine falsche Geste seines Lehrers, die mitten hinein getroffen hat in Darrens sexuelle Unsicherheit. Mit Hilfe intensiver Spracharbeit wird dieser Unsicherheit Ausdruck verliehen: Sexuell Konnotiertes prägt den perspektivisch gestalteten Text - so als sollte Darrens Versuch, (sich selbst) zu begreifen, Nachdruck verliehen werden. Doch wie soll er, auf den Frauen und Männer gleichermaßen ihr Begehren projizieren, überhaupt ein Gefühl für sich selbst bekommen? Der genderspezifische Konstruktcharakter von Sexualität wird förmlich auf die Spitze getrieben, wenn in einer Sprachwelt permanenter Herabwürdigung insbesondere von Homosexualität für Darren überhaupt keine Möglichkeit mehr besteht, für sich (oder gar einen Lehrer) einzutreten. Erst als die aus einer üblen Laune seiner Freunde heraus entstandene Verleumdung des Lehrers zu dessen Selbstmord führt, eröffnen sich für Darren erste - wortwörtliche - Auswege aus der Fremdbestimmtheit. Ein heftiger, herausfordernder und intensiver Text; ein bemerkenswertes Pendant zu den konventionellen Rollenspiel(ch)en mancher Jugendlektüren. Sehr zu empfehlen ab 16 Jahren.

Heidi Lexe / STUBE

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Peter Braun: Von Taugenichts bis Steppenwolf

: eine etwas andere Literaturgeschichte / Peter Braun. - Berlin : Bloomsbury, 2006. - 223 S. : Ill. ISBN 978-3-8270-5180-6 / 3-8270-5180-0 fest geb. : ca. € 15,40

In ansprechender sprachlicher Gestaltung werden die wesentlichen Entwicklungen deutscher Literaturgeschichte nachgezeichnet.

Wenn heute von Jugendlichen zu lesen ist, deren Wortschatz kaum über 700 Wörter hinausreicht, wird es mehr als die größte abgesagte Bildungsreform seit überhaupt brauchen, um wieder darüber diskutieren zu dürfen, wie viel Literaturgeschichte SchülerInnen zuzumuten ist. Wem jedoch verschultes Lernen die Lust an Literatur nicht beibringen konnte, den mag vielleicht diese sich als "etwas andere" präsentierende Literaturgeschichte auf den Weg bringen. Das liegt weniger an den deftigen Kapitelüberschriften, die Literatur als zünftige Annäherung ans Leben präsentieren, sondern vielmehr an der Tatsache, dass zentrale Werke der deutschen (!) Literaturgeschichte hier nicht abgearbeitet, sondern spannend nacherzählt und zueinander in Kontext gestellt werden. Beginnend mit Lessing und endend bei Borchert werden exemplarisch Dichter ausgewählt, an deren zentralen Werken sich die Kennzeichen einzelner Epochen und deren Verflochtenheit sichtbar machen lassen. Dass Dichterinnen dabei wieder einmal den kürzeren ziehen (müssen), wird zumindest thematisiert: In einem Kapitel, das Bettine Brentano und Irmgard Keun geschickt miteinander in Verbindung bringt, wird eingangs kurz die Geschichte der Frauen in der Literatur reflektiert und dabei auch die Heftigkeit der Vorbehalte gegenüber schreibenden Frauen angesprochen. Darüber hinaus darf noch Annette Droste-Hülshoff bei den Männern mitspielen - unter der bezeichnenden Kapitelüberschrift: "Tiefes, ödes Schweigen, die ganze Erd' wie tot." Zu empfehlen ab 14 Jahren.

Heidi Lexe / STUBE

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Bettina Balàka: Eisflüstern

: Roman / Bettina Balàka. - Graz : Literaturverl. Droschl, 2006. - 387 S. - ISBN 978-3-85420-710-8 / 3-85420-710-7 fest geb. : ca. € 24,00

Ein Heimkehrer aus dem Ersten Weltkrieg wird von Vergangenheit und Gegenwart bedrängt. (DR)

Balthasar Beck kehrt 1922 aus der Gefangenschaft in Ostsibirien nach Wien zu Frau und Kind zurück. Mühevoll ist die Alltagsbewältigung, sowohl in der Familie als auch in der Umgebung. Mehr seelisch als körperlich verwundet, wird er von Erinnerungen an traumatische Erlebnisse während seiner 7-jährigen Gefangenschaft heimgesucht. Er muss sich erst an die veränderten Lebensbedingungen ohne Kaiser gewöhnen wie auch an den stark aufflammenden Antisemitismus in der Bevölkerung, zumal seine Frau Jüdin ist. Schließlich kann er in seinem Beruf als Kriminalist wieder Fuß fassen und sieht sich sofort mit zwei rätselhaften und bestialischen Morden konfrontiert, die auf unheimliche Art mit seiner Person und den Lagerjahren in Sibirien verknüpft zu sein scheinen. Bettina Balàka erweckt bis ins kleinste Detail den entbehrungsreichen Nachkriegsalltag zum Leben. Sie schildert einerseits das Wien der frühen 1920er Jahre und andererseits die Welt der Gefangenenlager weit im Osten, wo Krankheit, Hunger und Elend auch Einfluss auf moralische Werte nehmen. - Eine empfehlenswerte Studie über den Beginn der modernen Gesellschaft in den 1920er Jahren.

Hertwiga Kröss / biblio

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Gilbert Adair : Mord auf ffolkes Manor

: [eine Art Kriminalroman] / Gilbert Adair. Aus dem Engl. von Jochen Schimmang. - München : C. H. Beck, 2006. - 294 S. ISBN 978-3-406-55065-2 / 3-406-55065-7 fest geb. : ca. € 19,50

Kriminalroman und Hommage an Agatha Christie. (DR)

Ein englisches Landhaus 1935. Freunde, die sich seit langem kennen, feiern Weihnachten. Der Schauplatz ist übersichtlich, es gibt keine Fäden oder Verbindungen zu anderen Orten. Das eingeschneite Haus, ein Toter in einem Raum, der von innen versperrt war, die Fenster sind vergittert. Die Freundesrunde wandelt sich zu sechs Verdächtigen, wegen des unmäßigen Schneefalls kann die Polizei nicht geholt werden. Doch in der Person des Partygastes Trubshawes, Chefinspector im Ruhestand, ist Scotland Yard quasi unter der Hand am Aufklären. Dieser Kommissar kocht nicht, leidet nicht am Weltschmerz, über sein Privatleben weiß man nicht viel, er ist ein klassischer Kommissar, er beobachtet und kombiniert. Subtile Anspielungen auf berühmte AutorInnen bekannter Kriminalromane zeichnen den Roman aus. Ein gut übersetzter, fast puristischer Kriminalroman, der die Überladung des Genres mit feiner Ironie aufdeckt.

Liselotte Leikermoser / biblio

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Silvia Bovenschen: Älter werden

: Notizen / Silvia Bovenschen. - Frankfurt a. M. : S. Fischer, 2006. - 154 S. - ISBN 978-3-10-003512-7 fest geb. : ca. € 18,40

Persönliche und anregende Gedanken über das Älterwerden. (DR)

Die Autorin reflektiert in ihrem Buch unter anderem die Entstehung desselben und berichtet, dass ihr mehrmals vom Titel "Älter werden" abgeraten wurde - der Leserkreis würde sich unweigerlich auf die ältere Generation beschränken. Als Enddreißigerin bin ich nun zum Zwecke einer Rezension an dieses Buch geraten und stelle fest, dass ich es nach der Lektüre des Titels wohl nicht gekauft hätte, es nach der Lektüre des Textes aber hochinteressant finde. Es handelt sich um sehr persönliche und berührende Texte zu den unterschiedlichsten Themen, Erinnerungen an Erlebnisse der Kindheit und Jugend. Mit großer Aufmerksamkeit reflektiert sie ihre Erinnerungen: War ich als Kind in einer bestimmten Situation glücklich oder will ich mich nur heute darin als glückliches Kind sehen? Verträgt sich das, was öffentlich über die zurückliegenden Zeiten verlautbart wird, mit den privaten Rückblicken? Warum hatten wir als Kinder kein Interesse an den notorischen Erzählungen der 1950er Jahre vom vergangenen Krieg? Leichtfüßig geschrieben enthält dieses Buch viele anregende Gedanken und hält auch mehrmaliger Lektüre stand.

Gabriele Doblhammer / biblio

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Gudrun Sulzenbacher: Vom Büchermachen

: wie Ötzi ins Buch kam / Gudrun Sulzenbacher. Mit Ill. von Detlef Surrey. - Wien : Folio-Verl., 2006. - 64 S. : zahlr. Ill. ISBN 978-3-85256-321-3 / 3-85256-321-6 fest geb. : ca. € 15,80

Alles Wissenswerte über Sachbücher - von der ersten Idee bis zum Bücherregal. (JV)

Warum gerade Ötzi? Was hat er mit der Buchproduktion zu tun? Die Autorin hat ein Jugendsachbuch über die Gletschermumie verfasst und bei ihren Lesereisen festgestellt, dass die Kinder ebenso viele Fragen zur Entstehung des Buches hatten wie zu Ötzi selbst. Aus dieser Erfahrung ist das nun vorliegende Buch entstanden. Und es lässt wirklich keine Fragen offen. Es beginnt mit einem Überblick über den deutschsprachigen Buchmarkt, erzählt von der Recherchearbeit der Autorin und der schwierigen Aufgabe, sich aus der Fülle des gesammelten Materials auf das Wesentliche zu konzentrieren. Es geht weiter mit der Layoutierung, den Illustrationen und der Rolle, die der Verlag dabei spielt. Auch die Aufgabe der Medientechniker und Grafiker wird beschrieben. Schließlich landet das fertige Manuskript in der Druckerei und beim Buchbinder. Danach kommen die verschiedenen Möglichkeiten des Marketings, um das Buch schließlich über Buchhandlung und Bibliotheken an die Leserschaft zu bringen. Auf kleinen Haftnotizzetteln werden Begriffe wie "Schmutztitelseite" und "Impressum" erklärt - und zwar genau an jener Stelle, an der sie im Buch zu finden sind. Ergänzend dazu gibt es ein Poster, das humorvoll illustriert die wichtigsten Abläufe zusammenfasst und bestens geeignet ist, in der Bibliothek aufgehängt zu werden. Aufgrund der ausführlichen Erklärungen ist das Buch nicht nur für Kinder bestens geeignet, sondern ebenso für Erwachsene und sollte deshalb in keiner Bibliothek fehlen. Wussten Sie übrigens, dass man auch in jugendfreien Büchern "Hurenkinder" finden kann? Jetzt wollen Sie wissen, was sich hinter dem wenig schmeichelhaften Begriff aus dem Druckereigewerbe verbirgt? Das Buch kaufen und nachlesen!

Anita Ruckerbauer / biblio

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Angelika Kirchmaier: Xundheit!

: Genießen leicht gemacht : der praktische Ratgeber für die gesunde Ernährung ; mit vielen Tipps und Rezepten / Angelika Kirchmaier. - Innsbruck : Tyrolia, 2006. - 213 S. : Ill. (farb.) - ISBN 978-3-7022-2790-6 / 3-7022-2790-3 kart. : ca. € 17,90

Gesundheit und Genuss schließen einander nicht aus. (VL)

Angelika Kirchmaier ist Diätologin. Gerade deshalb warnt sie vor Diäten. Was wirklich gegen Übergewicht hilft, ist nur eine dauerhafte Umstellung der Ernährung, kombiniert mit viel Bewegung. Eine Binsenweisheit, aber man kann sie wohl nicht oft genug wiederholen. Auch die Ausrede auf die Macht der Gene wird vom Tisch gefegt. Es ist nun einmal eine Tatsache, dass ein einziges Vanillekipferl ungefähr gleich viel Kalorien hat wie ein Kilo Karotten und dass 100 Gramm Kartoffelchips bereits mehr als ein Viertel des täglichen Energiebedarfs decken. Die Autorin ist aber kein Moralapostel. Kleine Sünden verzeiht sie, denn Verbote reizen ohnehin nur zum Übertreten. Außerdem wusste schon Paracelsus: "Die Dosis macht das Gift." Konstantin Wecker würde hinzufügen: "Wer nicht genießt, ist ungenießbar." Es geht in diesem Buch aber nicht nur ums Abnehmen, sondern um Essen und Trinken überhaupt. Da wird mit so manchen Vorurteilen und Irrtümern aufgeräumt, wie sie auch in den Köpfen gesundheitsbewusster KonsumentInnen existieren. So ist Tiefkühlgemüse oft vitaminreicher als tagelang gelagertes Frischgemüse, Putenfleisch muss nicht gesünder als Schweinernes sein, eine "unbehandelte" Zitrone ist noch lange keine Biozitrone, und saure Äpfel enthalten oft mehr Zucker als süße. Es wird auch genau erklärt, unter welchen Bedingungen Spinat oder Schwammerlgerichte aufgewärmt werden dürfen. Neben vielen praktischen Tipps für den Einkaufs- und Küchenalltag enthält das Buch etliche bodenständige Rezepte. Trotz der Informationsfülle verzichtet die Autorin auf den erhobenen Zeigefinger. Ihre pointierte Schreibweise und das angenehme Layout machen das Buch zu einer recht kurzweiligen Lektüre. Sehr empfehlenswert.

Renate Langer / biblio

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Gebete der Dichter

: große Zeugnisse aus 12 Jahrhunderten / ausgewählt von Alois Weimer. - Düsseldorf : Patmos, 2006. - 304 S. ISBN 978-3-491-72506-5 / 3-491-72506-2 fest geb. : ca. € 20,50

Chronologisch angeordnete Sammlung von literarischen Gebeten. (PR)

Auf den ersten Blick erscheint der Titel dieser Gebetssammlung als Widerspruch. Dichter schreiben doch literarische Texte, Gebete gehören augenscheinlich in einen anderen Kontext. Und doch sind die schönsten Gebete immer schon aus Dichters Federn entsprungen. Alois Weimer, von dem die übersichtliche und mit Bedacht vorgenommene Sammlung stammt, liefert damit den Beweis, dass es in allen Epochen bis zum heutigen Tag Lyrik gab und gibt, die sich an einen als Gott zu bezeichnenden Adressaten wendet. Vom Wessobrunner Gebet um 800 bis zu den Gebeten des 20. Jahrhunderts ist es ein langer Weg. Der Mensch hat sich von Gott emanzipiert. Fühlt er sich in den frühen Jahrhunderten deutschsprachiger Literatur als vom Schöpfer abhängig, so hinterfragt der moderne Mensch des 20. Jahrhunderts Gott kritisch. Doch selbst im Blick der Schoah hat sich das Beten nicht aufgehört, sondern massiv verändert - da ist dieses "niemand", dem Paul Celan, dessen Familie dem Nationalsozialismus zum Opfer gefallen ist, dem wir "entgegen blühn". Selbst wenn der "große Gott" angesprochen wird, wie bei Kurt Marti, ist klar, es ist seine Kleinheit, die ihn auszeichnet, denn er hat in uns Menschen Versteck genommen. Wissen sich frühe Dichter noch geborgen in Gott, so kann Ulla Hahn nur noch dafür danken, was Gott nicht bietet, wie z.B. Schutz und Stütze oder Gemeinschaft. Der Mensch ist auf sich gestellt, da gibt es nichts zu danken, und doch: Dafür gilt es Dank zu sagen und für "manches andere Gedicht". Jede Epoche ist gekennzeichnet durch ein eigenes Lebensgefühl, das sich auch in der Spiritualität niederschlägt. So sind die Gebete formal reinste Lyrik und inhaltlich Ausdruck der spirituellen Befindlichkeit ganzer Generationen. - Jede Epoche ist kurz beschrieben, so dass die Gebete in ihrem zeitlichen Kontext besser zu verstehen sind. Neben bekannten Texten finden sich viele wunderbare Zeugnisse dichterischen Könnens und spiritueller Tiefe. Eine wunderbare Sammlung.

Martina Lainer / biblio

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