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Buchtipps / 2006 / August

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Dolf Verroen: Josefinchen Mongolinchen

/ Dolf Verroen. Mit Zeichnungen von Birte Müller. Aus dem Niederländ. von Rolf Erdorf - Stuttgart : Freies Geistesleben, 2006. - 111 S. : Ill. ISBN 3-7725-2043-X fest geb. : ca. € 13,90

Josefien, die große Schwester von Jens, ist zehn Jahre älter als er – trotzdem hat er manchmal das Gefühl, er müsste sie, wie ein Prinz seine Prinzessin, beschützen: Denn Josefien ist anders, sie hat das Down-Syndrom. Doch sie entspricht so gar nicht dem Stereotyp der „armen Behinderten“: Sie raucht mit Vergnügen dünne Zigarillos, setzt durch, dass sie an einem Schönheitswettbewerb in der Schule von Jens teilnehmen darf und besteht im Restaurant selbstbewusst darauf, dass sie diejenige ist, die den Wein verkostet. Birte Müller arbeitet in ihren schwarz-weiß-Illustrationen mit unterschiedlichen Strukturen, sie zeigt vignettenhafte Details und immer wieder Josefiens ausdrucksstarkes Gesicht. In seiner klaren, schnörkellosen Sprache beschreibt Dolf Verroen ihren Alltag, die Freundschaften in der betreuten Wohngemeinschaft, in der sie wohnt, ihre Arbeit, auf die sie so stolz ist, aber auch die Schwierigkeiten und Ängste, mit denen sie zu kämpfen hat. Denn sie hat ein schwaches Herz, Vieles strengt sie sehr an, und nicht vor allem kann sie ihr Prinz beschützen ... Zu empfehlen ab 9 Jahren.

Kathrin Wexberg / STUBE

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Terence Blacker: Boy2Girl

/ Terence Blacker - Weinheim : Beltz & Gelberg, 2006. - 280 S. - (Gulliver; 973) ISBN 3-407-78973-4 kart. : ca. € 8,20 Aus dem Engl. von Heike Brandt

In der Hitze des Sommers Lust auf ein wenig Geschlechterkampf? Warum nicht! Am Meer, am See oder im Schwimmbad liegen und sich unterhalten lassen von einer Geschichte, die in lockerem Tonfall von einem außerordentlich erheiternden Rollentausch erzählt: Der 13jährige Sam zieht nach London und lässt gegenüber den Freunden seines Cousins Matthew gleich einmal den weltgewandten Coolen heraushängen. In Matthews Bunker-Bande, die bevorzugt mit der Zicken-Clique im Clinch liegt, möchte er aber trotzdem gerne aufgenommen werden. Das geht natürlich nicht ohne Mutprobe ab – und so wird Sam abverlangt, am ersten Tag in der neuen Schule als Mädchen aufzutreten. Aus Sam wird Samantha – und der strategisch geplante Rollentausch soll außer der Erheiterung auch noch gezielter Spionage dienen. Es wäre also eigentlich Samanthas Aufgabe, die Zicken-Clique auszuhorchen; zur Irritation aller beteiligten jedoch scheint Sam seine neue Rolle richtig zu genießen.... Gespickt wird die mehrperspektivische Collage mit launigen Geschlechterdiskussionen, einer verhalten einsetzenden Liebesgeschichte und einem abenteuerlich angehauchten Kampf um Sams Familienerbe. Ihr besonderer Reiz jedoch liegt im wortwitzigen Spiel mit Wahrnehmungsdifferenzen. Zu empfehlen ab 13 Jahren.

Heidi Lexe / STUBE

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Feridun Zaimoglu: Leyla

: Roman / Feridun Zaimoglu. - Köln : Kiepenheuer und Witsch, 2006. - 524 S. - ISBN 3-462-03696-3 fest geb. : ca. € 23,60

Schicksal eines anatolischen Mädchens von der Kindheit bis zum Leben als Gastarbeiterfrau. (DR)

Leyla ist die Jüngste von fünf Geschwistern, sie wächst in einer anatolischen Kleinstadt in den 1950er-Jahren auf. Die ganze Familie wird von der Angst vor dem brutalen, gewalttätigen Vater beherrscht, der sie kaum ausreichend ernähren kann und das wenige Geld mit Alkohol und dubiosen Geschäften in den Sand setzt. Schließlich zieht die Familie nach Istanbul um, wo Leyla einen jungen Mann kennen lernt, den sie nach langem Tauziehen mit dem Vater heiratet. Ihre wirtschaftliche Lage bessert sich dadurch jedoch nicht, sodass ihr Mann den Entschluss fasst, als Gastarbeiter nach Deutschland zu gehen. Nach dem Tod des Vaters folgt ihm Leyla in Begleitung ihres Sohnes und ihrer Mutter. Feridun Zaimoglu versteht es meisterhaft, die Lebensumstände in der restriktiven Gesellschaft von Leylas Geburtsstadt zu vermitteln, in der alles Denken von strengen Glaubensregeln, Aberglauben und Unwissenheit beherrscht wird. Auch in der Großstadt bleibt für Leyla nur ein enger Spielraum innerhalb der Familie, aber sie kann der Brutalität des Vaters in die Obhut ihres Mannes entfliehen. Zukunft gibt es jedoch für sie und ihre kleine Familie in der Türkei aus wirtschaftlichen Gründen keine. Der Autor, der selbst als Gastarbeitersohn in Deutschland aufwuchs, schildert mit großer Einfühlsamkeit die Gefühle und Gedanken des türkischen Mädchens, wofür er Informationen von seiner eigenen Mutter und anderen Gastarbeiterfrauen der älteren Generation sammelte. - Allen LeserInnen, die sich für andere Kulturen interessieren, wärmstens empfohlen, besonders im Hinblick auf das kulturelle Verständnis der türkischen Gastarbeiter.

Hertwiga Kröss / biblio

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Leif Davidsen: Der Feind im Spiegel

: Roman / Leif Davidsen. Aus dem Dän. von Peter Urban-Halle. - Wien : Zsolnay, 2006. - 397 S. ISBN 3-552-05364-6 / 9783552053649 fest geb. : ca. € 20,50

Spannender Thriller über 9/11 und westliche Geheimdienste, Islam und al-Qaida. (DR)

Vuk, Leif Davidsons Lesern aus "Der Fluch der bösen Tat" bekannt, hat sich in Amerika ein neues, bürgerliches Leben aufgebaut und versucht, seine Vergangenheit als Killer hinter sich zu lassen. Der 11. September 2001 verändert alles. Vuks wahre Identität fliegt im Zuge der fieberhaften Suche nach terroristischen Elementen in den USA auf. Da er Amerika nie geschadet hat und man sich von seinen Kontakten zur Terroristenszene viel erwartet, verspricht ihm der amerikanische Geheimdienst Straffreiheit und eine neue Identität, wenn er mit ihnen zusammenarbeitet. Am anderen Ende der Welt in Kopenhagen stellt Per Toftlund, der noch eine Rechnung mit Vuk offen hat, eine neue Ermittlungsgruppe des dänischen Geheimdienstes zusammen. Ihre Aufgabe es ist, terroristische Aktivitäten von islamischen Gruppierungen in Dänemark auszuforschen. Unverhofft auf derselben Seite stehend und auf der Jagd nach demselben Feind, einem berüchtigten al-Qaida Kämpfer, läuft alles auf ein unangenehmes Treffen der beiden Männer hinaus. - Ob es nun die Integration muslimischer Bürger in westlichen Ländern oder die Angst vor ihnen nach dem 11. September ist, Leif Davidson schafft es wieder einmal, im Gerüst eines spannenden Thrillers kontroverse gesellschaftspolitische und kulturelle Themen zu transportieren.

Lukas Schmuckermair / biblio

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Alice Munro: Tricks

: acht Erzählungen / Alice Munro. Aus dem Engl. von Heidi Zerning. - Frankfurt a. M. : S. Fischer, 2006. - 379 S. ISBN 3-10-048826-1 / 9783100488268 fest geb. : ca. € 20,50

Psychogramme in edles Erzählen gegossen. (DR)

In Kanada zählt sie zu den wichtigsten Autorinnen, der zahlreiche Preise zuteil wurden. Auch für den Literaturnobelpreis war sie, deren erste Texte 1950 erschienen, bereits im Gespräch. Alice Munro legt tiefsinnige Geschichten vor, in denen zumeist Frauen im Mittelpunkt des Geschehens stehen. Sie dreht die Uhr zurück, siedelt die Haupthandlungen in den 1930er bis 1970er Jahren an und lässt literarisch raffiniert, weil vielschichtig und Handlungsstränge spannungsreich verwebend, das Bild einer sich verändernden Zeit erstehen. Auf dem Hintergrund kanadischen Kleinstadtlebens spiegelt sich die Moral einer Gesellschaft, in der scheinbar alles seine Ordnung hat, in der die Rollen von Mann und Frau klar vergeben sind. Aber sie passen nicht mehr und sie bleiben so nicht, auch wenn die Figuren der Erzählungen einer Generation angehören, die die neuen Zeiten allenfalls vorbereiten, aber noch nicht selber danach leben. In den acht Erzählungen dieses Bandes zeigt Munro die Facetten weiblichen Alltags, hinter dem sich eine zweite Wirklichkeit auftut und sich Tabubrüche abzeichnen. In "Ausreißer" ist das die junge Frau, die ihren Mann mit Hilfe einer älteren Dame, die ihre lesbische Neigung entdeckt, verlassen will, es aber nicht schafft und sich in seinen Machtbereich zurückbegibt. In die Schicksale ihrer Figuren greifen unerwartete Ereignisse ein, geheimnisvolle Begegnungen, Zufälle, der Irrtum: subtil skizziert von der Autorin. In "Entscheidung" führt der Selbstmord eines depressiven Mannes, der sich der jungen Juliet, die ebenfalls allein reist, "anschließen" möchte, die Wende herbei. Ihre Abfuhr und sein Tod scheinen zusammenzuhängen und doch ist es der Anfang einer neuen Geschichte, weil sie dadurch den Vater ihrer Tochter Penelope kennen lernt. Das Thema Liebe zieht sich durch die Texte, am eindrucksvollsten in "Tricks". Robin lernt in einem fast märchenhaften Ambiente einen Montenegriner kennen, der sie bittet, genau ein Jahr später wieder zu kommen, den heutigen Tag genau so zu wiederholen, dann erst werde eine Beziehung Sinn machen. Der Irrtum lässt alles platzen und wieder kommt die Auflösung Jahrezehnte später. - Eine kraftvolle und sensible Lektüre in einem.

Martina Lainer / biblio

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Mirjam Bolle: "Ich weiß, dieser Brief wird Dich nie erreichen"

: Tagebuchbriefe aus Amsterdam, Westerbork und Bergen-Belsen / Mirjam Bolle. Aus dem Niederländ. von Stefan Häring und Verena Kiefer. - Frankfurt a. M. : Eichborn, 2006. - 298 S. - (Eichborn Berlin) - ISBN 3-8218-5768-4 fest geb. : ca. € 23,60

Persönliche Dokumente von außerordentlicher Unmittelbarkeit und Authentizität zum Thema "Endlösung". (BB)

Mirjam Levies Verlobter ist bereits nach Palästina vorausgereist. Sie sollte bald nachkommen, doch der Einmarsch der Deutschen 1941 vereitelt vorerst den Plan. Für ihn, aber auch, um sich selbst in dieser schweren Zeit Halt zu geben, schreibt die junge Frau in Form von Tagebuchbriefen auf, was sich vom Jänner 1943 weg in Amsterdam abspielt. Seit der Besetzung der Niederlande durch die Deutschen wird die jüdische Bevölkerung systematisch ihrer Rechte beraubt und schließlich offen verfolgt. Mirjam Levie ist Sekretärin beim "Jüdischen Rat" und erlebt als solche die Verzweiflung der von der Deportation bedrohten Juden aus nächster Nähe mit. Dazu kommt das unerträgliche Dilemma, dass der Jüdische Rat zum Handlanger der Deutschen werden muss, um noch Schlimmeres zu verhindern. Als Mirjam Levie im Juni 1943 selbst ins Durchgangslager Westerbork und ein halbes Jahr später ins KZ Bergen-Belsen abtrarnsportiert wird, gelingt es ihr auch dort, ihre Erlebnisse aufzuzeichnen und aufzubewahren. Mit großem Glück kommt sie im Juni 1944 frei, und zwar in einem Austausch gegen deutsche Gefangene. In einem Sonderzug wird sie mit gut 200 jüdischen Gefangenen quer durch Europa nach Palästina gebracht, wo sie nach sechs Jahren ihren Verlobten wiedersieht. Ein sehr aufwühlender Text, der auch als historisches Dokument äußerst wertvoll ist, weil die Aufzeichnungen unmittelbar und nicht im selektiven Rückblick gemacht worden sind. Die Briefe haben den Verlobten nie erreicht und Mirjam Levie-Bolle hat sich erst viele Jahre später wieder an sie erinnert.

Maria Schmuckermair / biblio

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Sabine Buttinger: Das Mittelalter

/ Sabine Buttinger. - Stuttgart : Theiss, 2006. - 191 S. : Ill. - (Theiss WissenKompakt) - ISBN 3-8062-1967-2 / 9783806219678 kart. : ca. € 20,50

Leicht lesbare Zusammenfassung der wichtigsten Ereignisse und Strömungen des Mittelalters. (GE)

Der Epochenbegriff des Mittelalters entstand im 15. Jahrhundert, als die italienischen Humanisten eine Ära des Übergangs zwischen Antike und ihrer eigenen Gegenwart abschaffen wollten. Die zeitliche Einbettung beginnt etwa mit dem Untergang des Weströmischen Reiches 476 und endet mit der Eroberung Konstantinopels 1453 oder der Entdeckung Amerikas 1492. Sabine Buttinger ist promovierte Mediävistin an der Universität München, sie hat sich der Aufgabe verschrieben, eine klar und übersichtlich gestaltete Zusammenfassung der Geschichte des Mittelalters zu verfassen. Die politische Geschichte stellt die Entwicklung und den Werdegang des deutschen Königtums von den Karolingern bis zu den Habsburgern in den Mittelpunkt. Den größten Teil des Buches nehmen aber die Sonderkapitel ein, die ein gesellschaftliches und soziales Panorama des Mittelalters zeichnen. Hier werden die Lebenszusammenhänge von Rittern, Bauern, Mönchen und Stadtbewohnern in erfrischender Kürze erklärt und mit Schwarzweißbildern illustriert. Über die mitteleuropäische Zentrierung hinaus verweisen auch die Kapitel über Muslime, Byzantiner und Randgruppen der Epoche. Das schwierige Vorhaben, die wesentlichsten Grundlagen und Zusammenhänge für einen Zeitraum von 1.000 Jahren erfahrbar zu machen, ist der Autorin gelungen. Ein Glossar und eine klar gestaltete Literaturliste zum Weiterlesen runden dieses Fachbuch für den interessierten Laien aus der Reihe WissenKompakt ab.

Josef Kunz / biblio

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Henri Nouwen: In einem anderen Licht

: von der Kunst des Lebens und Sterbens / Henri Nouwen. Hrsg. von Andrea Schwarz. - Freiburg i. Br. : Herder, 2006. - 139 S. ISBN 3-451-28899-0 / 9783451288999 fest geb. : ca. € 13,30

Glückendes Leben im Angesicht des Todes. Ein Trostbuch. (PR)

Nichts ist in unserem Leben so gewiss wie die Tatsache, dass es mit dem Tod endet. Diese Realität erzeugt aus dem Alltag und dem Bewusstsein verdrängt Angst und Verunsicherung. Wie also damit umgehen? Mit der durchmeditierten Erinnerung an das Sterben seiner Mutter und anderer nahestehender Menschen sowie der intensiv erlebten eigenen Todesnähe erschließt H. Nouwen einen persönlichen, tröstlichen, christlich-vertrauensvollen Weg, den Tod in das Leben als Bereicherung und Sinnstiftung zu integrieren. Biblische Bilder und die zärtlich-behutsame Mit-Teilung durchlebter Erfahrung des schon jetzt gegenwärtigen ewigen "Lächelns Gottes", das dem "Lächeln seines Volkes" im Tod begegnet, begründen tiefgreifend und anrührend das tragende Vertrauen in die bedingungslose Liebe Gottes, die den Tod in Solidarität miteinander in ein Meer des Vertrauens einbettet, in dem Angst oder Zweideutigkeit keinen Platz mehr haben. Sehr empfehlenswert.

Christiana Ulz / biblio

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