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Buchtipps / 2004 / Oktober

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Chen Jianhong: Han Gan und das Wunderpferd

Aus dem Franz. von Erika und Karl A. Klewer. Moritz 2004. 34 S. € 16,80. ISBN: 3-89565-155-9,

Nicht weniger als drei Jahrtausende sind es, die in diesem Bilderbuch über die Kunst zusammenfinden: Im Jahr 1871 unternahm der Milaneser Kunstsammler Enrico Cernuschi eine reise in den Orient und brachte unter vielem anderem (seine Sammlung ist im Pariser Musee Cernuschi anzusehen) ein auf Seide gemaltes Gemälde mit, das heute über 1.200 Jahre alt ist. Der in Peking geborene und in Paris lebende Bilderbuchkünstler Chen Jianghong wählt die auf dem Seiden-Gemälde dargestellte Szene „Pferde und Reitknechte“ als Ausgangspunkt einer Bilderbuchgeschichte, deren Bilder auch er auf Seide malt. Die Geschichte erzählt vom mittellosen Jungen Han Gan, der von einem etablierten Künstler in dessen Malschule aufgenommen wird. Han Gans Lieblingsmotiv sind Pferde; er stellt die Tiere jedoch stets angebunden dar: „Ich möchte nicht, dass sie mir davonlaufen“. Genau dieses Verflochtensein mit den eigenen Bildern gibt Anlass für einen mythisch-phantastischen Ausritt im wahrsten Sinn des Wortes: Eines Nachts taucht ein Krieger in der Malschule auf und stielt eines von Han Gan Pferden. Im folgenden wird ein Szenario des machtvollen Kampf entworfen – gespiegelt in den intensiven Farben der Bilder, die („eingesunken“ in den Seidenstoff) dunkel und schwer wirken und damit auf das Große, Unfassbare eines kriegerischen Weltengeschehens verweisen. Ein ungewöhnliches und in seiner Fremdartigkeit faszinierendes Bilderbuch, zu empfehlen ab 6 Jahren.

Heidi Lexe/STUBE

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Dagmar Chidolue: Liebe ist das Paradies

Dressler 2004. 107 S. € 9,90 .ISBN: 3-7915-0404-5. Ab 12 Jahren.

15 Jahre ist Jutta, die Protagonistin aus „Zuckerbrot und Maggisuppe“ in dieser unabhängigen Fortsetzung mittlerweile, und ihr Jungmädchendasein im Deutschland der späten Fünfziger ist voller vager Sehnsüchte und Träume, gespeist von Kitschromanen und geflüsterten Gesprächen der Mädchen untereinander über all das, was mit Eltern oder anderen Erwachsenen selbstverständlich kein Thema ist. Konsequent aus ihrer Perspektive werden die Gefühle einer Generation geschildert, die sich 10 Jahre später in der Studentenrevolution von 1968 aus ihren Fesseln befreien wird. Die wilden 68er, so verspricht der Klappentext, sind ohne Kenntnis der braven 50er nicht zu verstehen. Ob das tatsächlich so ist, sei dahingestellt – eine lesenswerte Schilderung eines sehr spezifischen Zeit- und Lebensgefühls ist es jedenfalls, ganz besonders in den Momenten, wo die erträumte Idylle langsam zu bröckeln beginnt: „Was haben denn all diese schönen Scheißgefühle zu bedeuten? Unsere Sehnsüchte, unsere geträumten Küsse? Wo ist die Liebe? Wo ist das Paradies geblieben?“

Kathrin Wexberg/STUBE

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Quarda Saillo: Tränenmond

ich war fünf, als meine Kindheit starb / Ouarda Saillo. - München : Ehrenwirth, 2004. - 383 S. ISBN 3-431-03263-X fest geb. : ca. € 20,50

Das Schicksal von sieben Geschwistern, die in Armut von Verwandten in Agadir aufgezogen werden.

Ouarda Saillo ist 5 Jahre alt, als ihr Vater nach jahrelanger geistiger Unzurechnungsfähigkeit ihre im siebten Monat schwangere Mutter auf dem Dach ihres Hauses in Agadir tötet. Nach seiner Verhaftung und Verurteilung nehmen sein Bruder, Onkel Hassan und Tante Zaina, die 7 Geschwister zu ihren eigenen Kindern auf und ziehen in das Elternhaus Ouardas in Agadir. Dort erhalten die 5 Kinder des Onkels die Betten und Ouarda muss mit ihren Geschwistern im Erdgeschoss auf Pappkartons schlafen, zugedeckt mit einer dünnen vergammelten Decke. Das Gesellschaftssystem in Marokko ist ein brutales. Arme Leute sind Menschen zweiter Klasse, egal wo. Und es besteht kaum eine Chance, diese Gesellschaftsklasse hinter sich zu lassen. So müssen auch Ouarda und ihre Geschwister und Cousins und Cousinen zusehen, dass sie Essbares auftreiben: auf der Straße, in Restaurants usw. Und oftmals gibt es nichts zu essen. Der Hunger ist ein ununterbrochener Begleiter ihrer ganzen Kindheit. Nur einmal hat es Ouarda 18 Monate lang gut: Sie wird zu einer befreundeten Familie gebracht, weil ihre Tante Zaina zu Begräbnisfeierlichkeiten in ihr Heimatdorf reist. In dieser Familie lernt Ouarda normale Verhältnisse kennen, wird geliebt und gut behandelt. Sie genießt das in vollen Zügen. Eines Tages aber steht Onkel Hassan vor der Türe und holt sie zurück. Nicht weil die Familie sie vermisst, sondern weil die Nachbarn tuscheln, sie sei als "petite bonne" verkauft worden. Dies sind vorwiegend Waisen oder illegitime Kinder, die an wohlhabende Familien verkauft werden und dort im Haushalt arbeiten müssen, meistens jedoch auch sexuell missbraucht werden. Mit 17 verlässt Ouarda die Schule und findet Arbeit als Kellnerin in einem guten Restaurant. Damit kann sie sich ein wenig aus der völligen Abhängigkeit von Onkel und Tante lösen, bleibt aber als unverheiratete Frau immer noch in der Gewalt des Onkels. Als sie 19 Jahre alt ist, kann sie mit Hilfe eines deutschen Freundes ausreisen und lebt seither in München. Ouarda Saillo hat 20 Jahre gebraucht, bis sie durch dieses Buch die traumatischen Erlebnisse ihrer Kindheit aufarbeiten konnte. Sie beschreibt das Martyrium bei ihren Verwandten ohne Hass, aber mit einer Eindringlichkeit, die berührt. Da die Verhältnisse in Marokko auch heute noch die gleichen sind, hat Ouarda mit Hilfe ihres Mannes Michael Kneissler einen gemeinnützigen Verein zur Hilfe für die "petites bonnes" gegründet, den man unter www.traenenmond.de findet. - Ein Buch, das breite Aufmerksamkeit verdient.

Hertwiga Kröss / biblio

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Giuseppe Tomasi di Lampedusa: Der Gattopardo

Roman / Giuseppe Tomasi di Lampedusa. Hrsg. u. m. e. Nachw. von Giocchino Lanza Tomasi. - Neuausg. - München : Piper, 2004. - 366 S. Aus dem Ital. von Giò Waeckerlin Induni ISBN 3-492-04584-7 fest geb. : ca. € 23,60

Ein Klassiker der italienischen Literatur, neu übersetzt und mit neuem Titel.

Guiseppe Tomasis einziger Roman wurde 2002 neu herausgegeben und dabei auch um zwei umstrittene Fragmente ergänzt, die beim ersten Erscheinen 1958 aus dem Manuskript gestrichen worden waren. Bei der nun vorliegenden Übersetzung ins Deutsche wurde der Titel nicht übersetzt. Er heißt nun nicht mehr "Der Leopard", sondern "Der Gattopardo". Il Gattopardo ist eine Pardelkatze und als solche ziert sie das Familienwappen des Autors und auch seines Protagonisten, Don Fabrizio Salina, den er ja seinem Großvater nachempfunden hat. Die Salinas sind eine der einflussreichsten adeligen Familien Siziliens, doch in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts gehören sie zu "jener unglückseligen Generation, die zwischen den alten und den neuen Zeiten" zerrieben wird. Garibaldi versucht Italien zu einen, das Bürgertum gelangt zu Reichtum und gewinnt an Bedeutung, der Adel verliert an Einfluss. Don Fabrizio verfolgt mit Wehmut, wie sein Lieblingsneffe sich mit den neuen Zeiten arrangiert: Er heiratet eine Bürgerliche, ermöglicht ihr den gesellschaftlichen Aufstieg und sichert sich eine reiche Mitgift. Am Sterbebett muss Don Fabrizio erkennen, dass er der letzte Salina war. Mit detailreicher, kraftvoller Sprache führt der Autor den Leser in die Lebenswelt des sizilianischen Adels: Festessen, ein prunkvoller Ball, der Aufenthalt in der Sommerresidenz, der Hausgeistliche und die Bediensteten, die mehr oder weniger treu und ehrlich zum Haus Salina stehen. Ein bedeutendes Werk, das sicheren Lesegenuss verspricht!

Gabriele Reifinger / biblio

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Julián Ayesta: Helena

oder das Meer des Sommers ; Roman / Julián Ayesta. Mit einem Nachw. von Antonio Pau. - München : C. H. Beck, 2004. - 110 S. Aus dem Span. übers. von Dagmar Ploetz ISBN 3-406-52322-6 fest geb. : ca. € 13,30

Einfühlsame Geschichte mit einer reizvollen Sprachmelodie, die eine wunderbare Stimmung der Besonderheit vermittelt.

Eine feingesponnene Geschichte wird in zart-blassen Tönen erzählt. Viele Jahre hätte der Autor Zeit für diesen kurzen Roman aufgewendet, so erfährt man im Nachwort. Zeit, die sich gelohnt hat, denn die einzelnen Abschnitte bewegen durch sprachliche Intensität und fügen sich zu einer bemerkenswerten Gesamtheit zusammen. Die Geschichte initiiert Aufbruchstimmung und Grenzenlosigkeit, und das in einer Phase politischer Dekadenz vor dem Ausbruch des Spanischen Bürgerkriegs. Der Leser spürt die Grenzerfahrung der Kindheit im Aufeinandertreffen beginnender Pubertät und scheinbarem Erwachsenwerden. Dargestellt werden die gemeinsamen Erlebnisse von verwandten Familien im spanischen Sommer am Meer. Erwachsene und Kinder verbringen die Ferien gleichermaßen ausgelassen, gepaart mit einer Melancholie der Willkür. Der Erzähler, selbst ein aufgekratzter Junge an der Schwelle der Veränderung, erlebt Helena und ihre nach innen gekehrte Wandlung eines Mädchens. Beide spüren eine Entfremdung von der Kindheit und fühlen eine leise Annäherung ihrer Gemüter, bis hin zur Zärtlichkeit. Der Kurzroman von Julián Ayesta, erstmals Mitte des 20. Jahrhunderts aufgelegt, erfährt in Spanien eine Renaissance. Diese erstaunliche Wiederentdeckung führte zu einer erstmaligen Übersetzung ins Deutsche. Das ist insofern nicht verwunderlich, da inhaltlich auf zeitlose, immer wiederkehrende Beziehungselemente verwiesen wird. Die empfindsame Absicht mit der erzählt wird, lässt den Leser "schöne" Literatur erleben.

Hannes Presslauer / biblio

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Katarina Kieri: Ich dachte. An Ihn

Hamburg : Oetinger, 2004. - 206 S. Aus dem Schwed. von Angelika Kutsch ISBN 3-7891-4018-X fest geb. : ca. € 11,30

Verletzte, große Gefühle und die Sehnsucht der Sardine nach dem Meer.

Laura geniert sich schnell und ist ihrer einzigen besten Freundin Lena für ihre Loyalität dankbar. Der neue Lehrer Gunnar lacht Laura an und bringt ihren Alltag - Horoskopelesen beim Frühstück, lernen und mit Lena plaudern - durcheinander. Ist sie in ihren Lehrer verliebt? Warum gibt es zwischen ihr und den Eltern so wenige Berührungen? Im Laufe der Geschichte stürzen viele Idole vom Podium, das Laura für sie gebaut hat: Lenas Mutter wirkt hart und egoistisch, Lena traurig, der Vater will zu einer jüngeren Frau ziehen. Laura liebt Bibliotheken, Bücher, die Stille und Katzen: Sie entdeckt ihre eigene Poesie, erfährt vom Selbstmord der Schwester ihrer Mutter. Sie schreibt ihr Lied, hat ihren Rhythmus gefunden und aufgehört, sich für sich und ihr Daheim zu genieren. - Kräftig, belebend und samtig wie ein guter Tee verwandelt diese Geschichte die Zeit in einen Film, in ein Musikstück, man lehnt sich zurück und riecht den Schnee. Die Autorin ist für den vorliegenden Romanerstling ausgezeichnet worden: Ihr ist es gelungen, die Liebe als Thema nicht kitschig zu bemalen, die Sehnsucht eines jungen Mädchens ohne Süffisanz darzustellen. Eine wichtige Rolle spielen Musik und Literatur - und natürlich die Bibliothek, aber die ist ohnehin der wichtigste Ort auf der Welt. Ein sehr empfehlenswerter Roman, wärmend an kalten Tagen, aufmunternd in Nebelstunden und aufrüttelnd, wenn man sich gerade in Arbeit vergraben möchte.

Christina Gastager-Repolust / biblio

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Martin Pollack: Der Tote im Bunker

: Bericht über meinen Vater / Martin Pollack. - Wien : Zsolnay, 2004. - 254 S. ISBN 3-552-05318-2 fest geb. : ca. € 20,50

Diesen sogenannten Bericht über den eigenen Vater habe ich wahrlich verschlungen, denn er war aufwühlend und spannend vom ersten bis zum letzten Satz. Mein totales Mitgenommensein mag auch mit meinem Alter zusammenhängen, ich habe ja die Nazizeit, in der sich die geschilderten Ereignisse abspielten, zum Teil noch selbst erlebt. Aber dies zu meinem Glück als gut behütetes Kind in einem kleinen Dorf. Um was geht es? Der Schriftsteller und Kenner der osteuropäischen Geschichte, Martin Pollack, Jahrgang 1944, begab sich viele Jahre lang auf die Suche nach den grausigen Spuren seines Vaters, welche dieser als gefürchteter SS-Mann hinterlassen hatte. Diese Spuren voller Blut führten von Slowenien, Österreich und Deutschland bis nach Polen. Martin Pollack kann sich an seinen Vater nicht persönlich erinnern, denn 1947, als jener ermordet wurde, war Martin noch ein kleiner Junge. Seine Recherchen sind gnadenlos, aber objektiv. Denn die Wahrheit, soweit sie sich überhaupt noch rekonstruieren ließ, musste ans Tageslicht. Der Sohn will seinem Vater gerecht werden, er weiß auch um die eigenen Abgründe, Abgründe, die wohl jeder Mensch in sich trägt. Der Leser bangt Zeile für Zeile mit, in der Hoffnung, dass wenigstens ein paar gute Taten des Vaters ans Licht kommen mögen, wie zum Beispiel die Rettung von Juden vor dem sicheren Tod im Konzentrationslager. Trotz aller Erklärungsversuche ist letztendlich nicht zu verstehen, wie Menschen über Mitmenschen solch ein Unglück bringen konnten. Auch Martin Pollack begreift es wohl nicht. Er spricht kein Urteil über seinen Vater. Die Fakten sprechen aber für sich, und das Urteil wird dem Leser überlassen. Martin Pollack hat ein gutes Buch geschrieben, auch für sich selber, und möglichst viele, vor allem junge Leute, sollten es lesen. Vielleicht leistet dieses Buch einen kleinen Beitrag dazu, dass sich dieser dunkelste Teil unserer Geschichte niemals wiederholen kann.

Frieder Rabus / biblio

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Kärnten. Literarisch

: Liebeserklärungen, Kopfnüsse, Denkzettel / hrsg. von Klaus Amann. In Zusammenarb. mit Fabjan Hafner, Hubert Lengauer u. Michaela Monschein. - Klagenfurt : Drava Verl., 2002. - 430 S. ISBN 3-85435-386-3 fest geb. : ca. € 29,50

Wer dieses wunderschön gestaltete Buch aufschlägt, findet sich in einem schwirrenden, vielstimmigen Textkonvolut aus 7 Jahrhunderten. Gemeinsam ist den Texten das Thema "Kärnten", die reale und mythische Landschaft im Dreieck slawischer, romanischer und deutscher Sprachwelt. Die Stimmen formulieren Liebeserklärungen, Attacken oder Denkzettel, sind provokativ-kritisch oder bekenntnishaft-jubelnd-zustimmend, bieten Zeugnisse enttäuschter und verlorener Liebe, vorsichtiger Sympathie, einseitiger Abrechnung oder ebensolcher Verherrlichung. Kärnten als Geburts-, Inspirations-, Arbeits-, Erholungs- oder auch Kampfort, das hat eine unglaubliche Fülle von korrespondierenden oder sich widersprechenden Texten zur Folge. Der Herausgeber und seine Mitarbeiter haben daraus in 6 Kapiteln ein faszinierendes, vielfältiges und dramaturgisch angelegtes Geflecht von Texten gebildet, bestehend aus Bekanntem und Unbekanntem, Über- und Unterschätztem, Innen- und Außenansichten. Mitlaufend - unterm Strich - finden sich Glossen, Zitate, Kommentare, die die dramatische Spannung erhöhen, Widerspruch leisten, zum Nachdenken und Nachschlagen anregen. Und so entsteht gegen bekannte und politisch oder von Tourismusinteressen verteidigte Selbstbilder ein weniger ideologisches Bild Kärntens, ein historisch gerechteres, das sich die LeserInnen selbst zusammensetzen können. - Äußerst empfehlenswerte bibliophile Anthologie. Für alle Bibliotheken mit Literaturanspruch und Österreichbezug. Und für Kärntner und Nichtkärntner, Literaturinteressierte ebenso.

Fritz Popp / biblio

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