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Buchtipps / 2004 / Mai

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Anna Gavalda: 35 Kilo Hoffnung

Ill. von Claas Janssen. Aus dem Franz. von Ursula Schregel. Berlin Verlag Bloomsbury Kinderbücher 2004. ISBN 3-8270-5014-6. 86 S., € 13,50

„Dieser Junge hat ein Gedächtnis wie ein Sieb, Finger wie eine Fee und ein riesengroßes Herz. Es müsste gelingen, daraus etwas zu machen.“ Dieser hoffnungsstarke Wunsch für ihren Schüler am Ende der Vorschule enthält auch alle angebrachte Skepsis gegenüber einem Schulsystem, das die Rangordnung der genannten Fähigkeiten gar nicht gutheißt. Tatsächlich dauert es für den handwerklich begabten David, der immerhin Erfinder einer Bananenschälmaschine ist, genau einen Tag, bis er weiß, dass Schule und er zwei einander ausschließende Größen sind. Als David mit 13 unmittelbar davor steht, zum dritten Mal sitzen zu bleiben, beginnen trotz seines optimistischen Naturells Selbstzweifel seine zerstörerischen Wurzeln zu schlagen. Anna Gavaldas in einem schmalen Band erzählte Schultragödie, die nicht stattfindet, wirft im Stil der Ich-Erzählung vom positiven Ende her den Blick zurück auf eine schwierige Phase des Suchens. Eingetaucht in dieses freundliche Licht und einen optimalen großväterlichen Rückhalt verliert die Erzählung ihren erschreckenden Tenor, behält aber die brisante Ermutigung, sich von einem einseitigen System nicht klein kriegen zu lassen. Sehr empfehlenswert ab 9 Jahren.

Inge Cevela /STUBE

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Sigrid Laube: Sisi, das Kind der Sonne

Wien: Jungbrunnen 2004. ISBN 3-7026-5756-8. 224 S., € 16,40

Die Begeisterung für Kaiserin Elisabeth scheint in Österreich immer wieder neue Hochblüten zu erleben – angeregt (oder gesteuert?) durch immer neue Impulse, vom Musical bis zum Museum. Während das neue Sisi-Museum in der Hofburg, das am 24. April, ihrem 150. Hochzeitstag, eröffnet wurde, versucht, einen Bogen über ihr ganzes Leben zu spannen, beschränkt sich Sigrid Laube in ihrem Buch auf die Erzählung ihrer Kindheit und Jugend. Gekonnt den damaligen Jargon aufnehmend („Sie sehen ja, dass ich mich alteriere!“), angereichert um sorgfältig gezeichnete Nebenfiguren, gelingt es der Autorin, neben den gängigen Sisi-Bildern und Klischees eine eigenständige Geschichte zu entwickeln, die sich auf das Innenleben des jungen Mädchens konzentriert. Zeitlich zwischen ihrer Geburt und dem Verlassen des elterlichen Schlosses angesiedelt, entsteht ein anschauliches Bild einer Person wie auch einer Epoche voller Widersprüche und Brüche. Empfehlenswert ab 11 Jahren!

Kathrin Wexberg / STUBE

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Ulrike Kuckero: Das Ende der Stille

Stuttgart : Thienemann , 2004. - 221 S. ISBN 3-522-17645-6 fest geb. : ca. € 14,30

In den Weihnachtsferien entdeckt Antonia im Haus der Großmutter ein Klavier und Notenhefte. Für ihr Leben gern würde sie Musikunterricht nehmen, doch worüber andere Eltern glücklich wären, ist für Antonias Eltern ein Tabu. Musik wird geradezu krankhaft gemieden. So bringt sich das Mädchen heimlich die Grundzüge des Klavierspielens bei und wird schließlich von einem alten Musiker als Schülerin angenommen. Doch das Doppelleben zehrt an ihren Kräften und die Frage, was es mit den Depressionen der Mutter und dem jung verstorbenen Onkel auf sich hat, wird immer drängender. Erst ein dramatisches Erlebnis bricht den Widerstand der Eltern und führt zur Aufarbeitung eines lange zurückliegenden Traumas. Leidenschaft fürs Klavierspiel und klassische Musik mögen zwar als Themen für einen Adoleszenzroman einigermaßen uncool erscheinen, aber die Autorin beweist, dass man auch auf diesem Terrain zeitgemäß und spannend erzählen kann. Die Schilderung eines Mädchens, das durch eine spezielle Begabung, die noch dazu verheimlicht werden muss, zur Außenseiterin zu werden droht, ist nachvollziehbar und einfühlsam beschrieben - keine Verherrlichung des Bildungsbürgertums sondern Ermutigung, den eigenen Weg konsequent zu gehen. Ein interessanter und empfehlenswerter Roman für Leser/innen ab etwa 13 Jahren.

Ingrid Kainzer / ÖBW

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Alai: Roter Mohn

Zürich : Unionsverl., 2004. - 445 S. Aus dem Chines. von Karin Hasselblatt ISBN 3-293-00327-3 fest geb. : ca. € 22,90

Während im fernen Peking die Republik ausgerufen worden ist, herrschen in Tibet noch immer mehrere Fürstenhäuser, die sich erbitterte Kleinkriege um territoriale Machtansprüche liefern. Im Mittelpunkt dieses Romans steht der zweite Sohn des Fürsten Maichi, der allgemein als Idiot gilt. Als die Maichis an die neue Pflanze Roter Mohn gelangen, aus der Opium gewonnen wird, bringt diese dem Fürstenhaus unermesslichen Reichtum, doch nur "der Idiot" besitzt den nötigen Weitblick, um die Anforderungen der Zukunft zu erkennen und seinem Geschlecht die Ausdehnung der Macht zu sichern. Und er ist der einzige, der erkennt, dass das Zeitalter der tibetischen Fürsten kurz vor seinem Ende steht. Aus der Sicht des von allen als Idioten verkannten jungen Herrn des Fürstenhauses Maichi erzählt der Tibeter Alai die faszinierende Geschichte einer exotischen Welt, in der überholte Strukturen aufrechterhalten werden, während sich die Moderne unaufhaltsam ihren Weg bahnt. Der Autor hat mit seiner Hauptfirgur einen aussergewöhntlichen Charakter erschaffen, der durch seinen Status als "Idiot" losgelöst von allen Zwängen des Konventionellen einen beeindruckenden Scharfblick entwickelt und seine ihm scheinbar intellektuell überlegenen Mitmenschen immer wieder beschämt. Alai versteht sich auf die Vermittlung von Atmosphäre, der Leser/die Leserin vermeint den Hauch des Niedergangs, des Morbiden, regelrecht zu verspüren und verfolgt gespannt die Geschicke des Fürstenhauses Maichi bis hin zum bewegenden Finale. Ein aussergewöhnlicher Roman für Leser/Innen, die sich gerne in fremde Kulturen entführen lassen.

Michaela Grames / ÖBW

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Pablo de Santis: Voltaires Kalligraph

Zürich : Unionsverl., 2004. - 185 S. Aus dem Span. von Claudia Wuttke ISBN 3-293-00328-1 fest geb. : ca. € 16,90

Ein junger Kalligraph inmitten von Intrigen in der Zeit der beginnenden Aufklärung im Frankreich des 18. Jahrhunderts. (DR)

Als der junge Dalessius eine Stelle als Schreiber im Schloss des scharfzüngigen Philosophen Voltaire annimmt, ahnt er nicht, dass er für seinen neuen Herrn höchst gefährliche Recherchearbeiten durchführen muss. Dalessius wird nach Toulouse geschickt, um der grausamen - und historisch belegten - Hinrichtung des Jean Calas beizuwohnen, und kommt dabei einer tödlichen Intrige des Klerus auf die Spur, bei deren Entwirrung der Weg des Kalligraphen gekreuzt wird von abergläubischen Menschen, unsichtbarer und giftiger Tinte, der Leichen transportierenden "Kutsche der nächtlichen Post" sowie einem gutherzigen und erfinderischen Henker. Dieser wird dem Protagonisten ein wahrer Freund, wenngleich in dieser Zeit der beginnenden Aufklärung das Handwerk des Henkers der mechanisierten Guillotine weichen muss, wie auch der Beruf des Kalligraphen selbst aussterben wird. Mit der mysteriösen Figur der Clarissa, der Dalessius zunächst als vermeintlicher Toten, später dann als mechanischen Automatenmenschen begegnet, knüpft der argentinische Autor Pablo De Santis an die Gothic Novel einer Mary Shelley an, unverkennbar sind auch Bezüge zu E.T.A. Hoffmann und auch Philip K. Dick, deren Automaten und Androiden Fragen zur Unterscheidbarkeit von Mensch und Maschine aufwerfen, eine Frage die Dalessius auch beschäftigt, als er der "echten" Clarissa begegnet. In einem Interview bezeichnete De Santis seinen Helden treffend als Mischung aus Alchimist und James Bond, sein kulturgeschichtlich interessanter und sprachlich dichter Krimi ist ein überzeugender Roman, angesiedelt in einer düsteren Phase des Umbruchs.

Doris Schrötter / ÖBW

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Johannes Urzidil: Da geht Kafka

München : Langen Müller, 2004. - 208 S. ISBN 3-7844-2945-9 fest geb. : ca. €

Johannes Urzidil gehörte zum Freundeskreis von Franz Kafka. Sein Buch "Da geht Kafka", das erstmals 1965, fünf Jahre vor seinem Tod, erschien, gehört neben der Biografie von Max Brod zu jener Sekundärliteratur, die von einem Zeitgenossen und Vertrauten Franz Kafkas geschrieben wurde und die immer wieder zitiert wird. Das macht sie besonders. Urzidil hat Distanz gewahrt, als wollte er sich nicht in den Dunstkreis subjektiver Betrachtungen ziehen lassen. Bereits der Titel suggeriert Flüchtiges, macht aber auch neugierig auf den Vorübergehenden, auf Franz Kafka. Der Autor sieht Kafka nicht als den Lebensunfähigen, den Kontaktscheuen, als der er gerne gesehen wird. Kafka war zu Lebzeiten bereits bekannt und gewürdigt. Untrennbar verbunden mit seinem Namen ist Prag - eine Beziehung, mit der Urzidil seine Zugänge zu Kafka beginnt. Wohl kaum ein Werk ist so kontroversiell und so oft interpretiert worden, wie das des Expressionisten Kafka. Und doch schafft Urzidil immer wieder neue Sichtweisen - etwa, wenn er die Mythologie heranzieht und zu anderen zeitgenössischen Autoren Parallelen zieht. Auch die Erinnerungen an das Begräbnis Franz Kafkas sind ein beeindruckendes Zeitdokument, das nicht nur Germanisten/innen interessieren wird. - Gut lesbar ist dieses Buch, obzwar es gespickt ist von veralteten Ausdrücken, die sicherlich nicht mehr zum allgemeinen Repertoire gehören. Ein spannendes Buch, das dazu verhelfen kann, sich wieder über die Lektüre des Werks von Franz Kafka zu wagen.

Martina Lainer / ÖBW

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György Dalos: Ungarn in der Nußschale

Geschichte meines Landes / György Dalos. - München : C. H. Beck, 2004. - 199 S. ISBN 3-406-51032-9 fest geb. : ca. € 20,50

Wer den in Berlin lebenden Autor diskutieren erlebt hat, dem sind sein Witz und seine mit leichter Hand hingestreuten Bonmots in Erinnerung. Dieses Charaktermerkmal durchzieht auch seine Geschichte Ungarns. Der Blick über 1000 Jahre zurück zeigt ein Land, das Besetzung und Fremdherrschaft erlebt hat: Mongolen, Türken und Habsburger; 1918 dann die ersehnte Unabhängigkeit. Das ursprünglich aus Asien stammende Nomadenvolk hat die Christianisierung und den Anschluss an die westeuropäische Kultur vollzogen, sich gleichzeitig immer auch bemüht, die Selbstständigkeit zu wahren. Herders Prognose, die Sprache der Magyaren werde - als finnougrische Sprache isoliert innerhalb der sie umgebenden Sprachfamilien - à la longue verschwinden, hat sich als falsch herausgestellt; im Bewusstsein der Ungarn ist sie aber nach wie vor präsent. Vielleicht erklärt das die anhaltende Beschäftigung mit der eigenen Geschichte, wie sie etwa auch Péter Esterházy mit "Harmonia Caelestis" unternommen hat. Die kurzen Kapitel machen das Buch leicht lesbar. Zahlreiche Originalzitate erlauben einen aufregenden Einblick in Historiographie und Denken vergangener Jahrhunderte. Von diesen ausgehend, schreibt Dalos in fast jedem Absatz auf einen Gag, eine abschließende Pointe hin und findet anregende Querverweise zur Gegenwart. Der sachliche und informative Gehalt kommt bei alledem keineswegs zu kurz. Für die Lektüre sind keine speziellen historischen Vorkenntnisse nötig. Mitzubringen sind ein Sensorium für lockere Hintergründigkeit und unterschwellige Ironie. Auch in Anbetracht des ungarischen EU-Beitritts zur Anschaffung empfohlen.

Kristina Werndl / ÖBW

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Jay Ingram: Die Geschwindigkeit des Honigs

ungewöhnliche Erkenntnisse aus der Physik des Alltags / Jay Ingram. - Frankfurt a. M. : Campus, 2004. - 220 S. Aus dem Engl. von Ingrid Fischer-Schreiber ISBN 3-593-37528-1 fest geb. : ca. € 20,50

Warum meinen wohl die meisten älteren Leute, dass die Zeit für sie immer rascher vergeht? Dieses subjektive Gefühl begleitet die Menschen vermutlich schon immer, überlieferte Quellen dazu würde man im Ernstfall sicher zuhauf auffinden können. Aber wenn der Interessierte eine qualifizierte Antwort auf die uralte Frage des lebensalterabhängigen Zeitempfindens haben will, dann hapert es immer noch gewaltig. Fachleute reden von im Laufe eines Menschenlebens sich verändernden biologischen Uhren, haben aber noch nicht mal Gewissheit darüber, in welchen Gehirnzonen derartige Uhren sitzen sollen, geschweige denn, wie sie funktionieren könnten. Sie erfinden Arbeitshypothesen und Modelle, wissen aber nicht, was wo und wie genau dahintersteckt. Um einen Vergleich zu wählen: Ein braver PC-Anwender weiß, dass in seinem PC seine Daten irgendwo abgespeichert werden. Die meisten wissen sogar, dass es sich um eine Festplatte oder temporär um einen elektronischen Zwischenspeicher handelt. Aber könnte man allein mit diesem im Vergleich zur biologischen Uhr fast schon gefestigten Wissen auch nur ansatzweise verstehen, wie die Abläufe im PC wirklich vonstatten gehen? Müsste der "Halbwissende" einen solchen PC reparieren, dann wäre er doch etwas überfordert. Zugegeben, manchmal hilft zwar beherztes "Draufklopfen", wofür zum Beispiel in der Medizin die "Götter in Weiß" genügend positive Beispiele liefern können. Genau diese Art von Grenzthemen wie das Zeitempfinden, zum Teil schon Jahrhunderte lang diskutiert, zwischendurch auch wieder vergessen, greift der bekannte und mit vielen Preisen ausgezeichnete Wissenschaftsautor Jay Ingram mit großer Lust auf, und er versucht damit, das Interesse seiner Leser zu gewinnen. Dies ist ihm zumindest bei mir trefflich gelungen. Der Reiz der von ihm ausgewählten Themen liegt vor allem darin, dass der Leser die Themen aus seinem Alltag weitgehend kennt und zunächst meint, eine Antwort zu haben oder auch denkt, dass eine befriedigende Antwort mit Hilfe aller bekannten Gesetze aus der Physik und vielleicht weiterer Wissenschaften schon möglich sein müsste. Beim tieferen Einlesen und Nachdenken beginnt er aber zu ahnen, dass die Antwort umso komplizierter wird, je tiefer man fragt. Das Formulieren dieser Fragestellungen beherrscht Jay Ingram bestens. Also Geschichten ohne Ende und mit immer tieferen Einblicken in die unglaubliche Komplexität der scheinbar einfachen Alltagsdinge. Wenn dann noch, wie so oft, die sogenannten nichtexakten Wissenschaften, Beispiel Psychologie, ins Spiel kommen, dann schleicht sich ein weiterer Grauschleier ins Lösungsspiel. Abhandlungen über Illusionen, Psikraft, Telepathie oder wie Kinder von Müttern an die Brust gehalten werden, sind zur Komplexitätssteigerung des Themenreigens bestens geeignet. Aber selbst da, wo es rein physikalisch zuzugehen scheint, zum Beispiel bei der Frage, unter welchen Bedingungen Kaffeetropfen auf einem Untergrund Flecken hinterlassen, bleiben noch erstaunlich viele Fragen offen. - Ein kurzweiliges Buch für neugierige Leser aller Alters- und Berufsgruppen, kompetent und nicht nur angelesen geschrieben, gut übersetzt. Als toleranter Mitteleuropäer lernt man rasch, über gewisse Überzeichnungen, wie sie in amerikanischen Büchern häufig vorkommen, großzügig hinwegzusehen.

Frieder Rabus / ÖBW

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